Luke Pearson – Was du nicht siehst

Man sieht nur mit dem Auge gut, ganz frei nach Herrn Saint-Exupéry, aber Vieles bleibt ungesehen. Was entgeht unserem Blickwinkel, was übersehen wir, und, vor allem: Was würde sich ändern, könnten wir unseren Blick schärfen, unsere Perspektive wechseln?

Dies sind die Themen, denen sich Luke Pearson in seinem neuen Comic “Was du nicht siehst” widmet, auf deutsch vor kurzem bei Reprodukt erschienen.

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Robert Crumbs “Mister Nostalgia”–Von Country Blues und Comix

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Bereits nach wenigen Seiten der Lektüre von Robert Crumbs “Mister Nostalgia” hatte ich das Bedürfnis, meinem Ärger Luft zu machen. Ärger darüber, dass ich nicht viel früher zu Sachen von Herrn Crumb gegriffen habe. Deshalb obiger Tweet. Klar, letztes Jahr habe ich eine Kafka-Biographie gelesen und besprochen, die von Herrn Crumb illustriert wurde. Aber dabei handelte es sich um eine Kooperation, nicht um ein originäres Werk von Crumb selbst, dem Altmeister der Underground-Comix.

Nun also “Mister Nostalgia”. In all meiner Unbedarftheit, was Underground-Comix im Allgemeinen und Crumb im Besonderen angeht, habe ich mich für “Mister Nostalgia” vor allem aufgrund der bibliophilen Gestaltung des Buches entschieden. Die neuen Crumb-Werke bei Reprodukt sind allesamt großformatig in Halbleinen gebunden, bestechen durch dickes Papier und viele liebevolle kleine Illustrationen zwischen den eigentlichen Geschichten.

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Wie gesagt hat es dann jedoch nicht lange gedauert, bis mich der ureigene, verschrobene, seltsam packende Charme des Herrn Crumb einfing. Dabei ist das Thema von “Mister Nostalgia” alles andere als mein Steckenpferd: Es geht um Musik, genauer gesagt um alten Country Blues aus den Südstaaten der USA, um Plattensammler, Grammophone und Auftritte in schummerigen Blues-Spelunken. Ich höre gerne und oft Musik, auch Blues, aber ich bin da bei weitem nicht bewandert – hier sollte man sich an Tilman von 54music 54books wenden.

Allerdings schaffte Crumb es schon in der ersten Geschichte mit dem Namen “So ist das Leben” mich zu überraschen – indem er den Protagonisten, direkt, nachdem die Geschichte gerade anfing…aber lassen wir das, ich will keine Spoiler verbreiten. Crumbs lakonischer und (zumindest hier) zurückhaltend zynischer Stil, gepaart mit seinem Humor, ergibt eine wunderbare Mischung, die nicht nur Leser mit einem special interest in Blues- und Jazzgeschichte packen dürfte.

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In einer anderen Geschichte erzählt Crumb davon, wie er selbst (aus den massiven autobiographischen Bezügen wird, wie wohl häufig bei Crumb, keinerlei Hehl gemacht) auf die Jagd nach alten Schallplatten geht und stets auf der Suche ist nach einem neuen alten Meisterstück, einem verbogenen Schatz. Das erinnert an die persönliche Bücherjagd und macht Crumb höchst sympathisch.

Zu Crumbs Stil gibt es nur eins zu sagen: Im Comicbereich gibt es einige Künstler (steigender Anzahl, wie es mir scheint), die einen derart individuellen Stil haben, dass man sie immer und überall aus Dutzenden anderer Zeichner herausheben kann. Crumbs schraffurlastiger, schmutziger, unrein-dynamischer Schwarzweis-Stil sucht Seinesgleichen: Als Vorreiter der Underground-Comix hat er in der Radikalität seiner Zeichnungen Pionierarbeit geleistet. Die dicken Beine der Rubensfrauen, die stets maßlos übertriebene Mimik – man muss Crumbs Eigenwilligkeiten einfach lieben. Oder zumindest künstlerisch wertschätzen.

“Mister Nostalgia” ist eine gelungene Sammlung von kurzen Geschichten, Porträts und anderen Skizzen, die trotz des scheinbaren Gegensatzes von Country Blues und U-Comix aus einem Guss daherkommt.

Es ist schön, wenn sich neue Welten öffnen. Crumb hat mir das Tor zur Welt des Comic-Undergrounds ein großes Stück weit aufgerissen.
Danke!

In einem unbekannten Land…

…vor gar nicht allzu langer Zeit…

Im Herbst steht ein Jubiläum ins Haus: Am 09. November 2014 jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal. Weltpolitisch betrachtet sind 25 Jahre keine allzu lange Zeit; jedoch hat sich in den Jahren seit der Wende in unserem geeinten Land soviel getan, dass die Spuren der DDR-Vergangenheit mehr und mehr verblassen.

Auf Spurensuche begibt sich auch der Berliner Comic-Künstler Mawil, der 1976 in Ostberlin geboren wurde und somit die letzten DDR-Jahre noch als Kind und Jugendlicher erlebte. Nach über sieben Jahren legt er mit “Kinderland” sein neues Comic vor, dessen fast 300 farbenfrohe Seiten heute am GratisComicTag bei Reprodukt erscheinen. Ohne die Machenschaften des ostdeutschen (Überwachungs-)Staates zu verklären oder in “Ostalgie” zu verfallen, ergründet Mawil pointiert, wie Kinderaugen das ganz alltägliche Leben in der DDR wahrnahmen.

Pioniere, FDJ und Tischtennis

Mirco ist 13, für sein Alter etwas klein geraten und dazu auch noch recht nah am Wasser gebaut. Er geht in die 7. Klasse der Tamara-Bunke-Schule in Ostberlin, schleppt sich mehr schlecht als recht zu dem einen, richtigen Klavierunterricht und zu dem anderen “Klavierunterricht”, das heißt zu den jungen Pionieren. In der Klasse scheint er mit den Mädchen, die ihn zumindest dulden, besser klarzukommen als mit den Jungs, die ihn bestenfalls ignorieren.

Immer wieder hat er Streit mit den draufgängerischen, viel älteren FDJlern Bolzen und Prinz, die ihm das Leben schwer machen. Eines Tages lernt er Torsten kennen, den unangepassten neuen Mitschüler, dem Zuspätkommen nichts ausmacht und der tatsächlich eine Digitaluhr aus dem Westen am Handgelenk trägt.

Als Mirco seine Eltern eines Tages dabei belauscht, wie diese vom “Rübermachen” sprechen, bekommt er es mit der Angst zu tun. Ablenkung findet der unsichere Siebtklässler nur im Tischtennis, wo er am liebsten ein Turnier für die ganze Schule organisieren würde. Doch das ist am Pioniergeburtstag natürlich nicht erlaubt. Und sowieso hat die DDR die Sportförderung von Tischtennis eingestellt, da die Chinesen, die ihren ganz eigenen Sozialismus betreiben, darin zu gut geworden sind.

Die Ereignisse verdichten und überschlagen sich, bis irgendwann der 09. November naht. Und damit eine Nacht, die alles verändert.

Konsequente Kinderaugen

“Kinderland” ist ein kleiner Geniestreich. Mawil hält konsequent die kindliche Perspektive durch, jede Szene ist aus Mircos Sicht geschrieben und gezeichnet, sodass der Leser schon nach wenigen Panels mitfiebert – und sich vielleicht ein wenig an seine eigene Kindheit erinnert, egal ob ins Ost oder West. Die politischen Umstände und Hintergründe lässt Mawil dabei stets sehr subtil einfließen. So mag auf einem Tisch beiläufig Westpresse wie der SPIEGEL liegen oder eine Mitschülerin mag plötzlich mitsamt Familie verschwinden. Mirco versteht all dies nicht richtig, und viel wichtiger ist ohnehin das Tischtennis. Aber Mirco und damit auch der Leser spürt, dass das Politische im Alltag hintergründig allgegenwärtig ist.

Die äußere Struktur der Panels ist genau so streng wie der zeichnerische Inhalt frei und jovial ist: In starren, fast nie gebrochenen, stets mit fettem Strich umrandeten Panels brennt Mawil jeweils ein kleines Feuerwerk an Bonbonfarben und professionell-naiven Zeichnungen ab. Das Ganze ist, auch wenn ich das Wort nicht besonders mag, “cartoonig” – aber ganz sicher nie albern. Mawil trifft jeden Ton.

Das gilt auch für die grandiosen Dialoge. Mawil lässt ganz bewusst die Jugendsprache der späten Achtziger wiederaufleben. Das ist gewöhnungsbedürftig, schafft aber eine umso realistischere Atmosphäre. Getragen wird der Text von Lettering und Soundeffekten, die genau so schrill und bunt sind wie die Zeichnungen und mit diesen bestens harmonieren.

Fazit

“Kinderland” ist eine wunderbare Erzählung aus einem Guss. Mawil schafft es, das Medium Comic so kohärent zu nutzen, wie ich es lange nicht mehr gelesen habe.

Wer sich für eine realistische, subtil politische und keinesfalls verklärende Betrachtung des untergegangenen Nachbarlands interessiert, sollte “Kinderland” unbedingt eine Chance geben. Dieses Comic ist für alle Altersklassen geeignet und ebenso für Comic-Aficionados wie für Neueinsteiger in die Welt der Sprechblasen zu empfehlen.

Ein ganz großes Lob an Mawil nach Berlin!