Saša Stanišić: Vor dem Fest – Was Sprache kann

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”

Rhythmus: Ein Dorf im Dialog

Die obigen Zeilen, der Anfang des Werks, mit dem Stanišić den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gewann, enthalten in nuce bereits den Ton des Ganzen, destilliert auf wenige Zeilen: Ein kollektives “Wir” spricht mit dem “Du” des Lesers (oder einem anderen Du?), eine Dialog spannt sich auf, die Grundstimmung ist latent traurig (der Fährmann ist tot), es gibt zwei Seen, die Eisbrocken “klacken”. Mehr braucht man nicht, um in einen Text einzuführen, der seinen Sog von der ersten Zeile an entwickelt und dessen sprachlicher Rhythmus bis zum Ende keinen Jota nachgibt. Continue reading

Montagslyrik: Goethe – „Feiger Gedanken“

Erbauliches zum Wochenbeginn:

Da viele andere Blogger auf das Wochenende setzen, wenn sie sich mit Lyrik befassen, schnappe ich mir den Montag. Von nun an werde ich in loser Folge zum Wochenstart erbauliche Gedichte veröffentlichen.

Den Auftakt macht Goethes Kleinod „Feiger Gedanken“ (1777): Continue reading

Dave Eggers – "The Circle": Diktatur aus Glas

Mitte Mai entschied der Europäische Gerichtshof, dass dem Einzelnen ein Recht auf Vergessenwerden zusteht. Niemand muss fürchten, dass falsche Informationen bis ans Ende aller Tage in den digitalen Untiefen der Cloud auffindbar sind. Das Recht auf Vergessenwerden, das auch in einer neuen Datenschutzrichtlinie enthalten sein wird, an der derzeit die EU-Kommission arbeitet, korrespondiert eng mit einem anderen, wichtigeren, sehr viel älteren Menschenrecht: Dem Recht, sich rauszuhalten. Nicht mitzumachen. Zu verschwinden und alleine für sich zu sein. Ganz privat.

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