Doppelrezension: Kleists Michael Kohlhaas in Text und Bild

Bei dem Namen “Heinrich von Kleist” zucken viele unvermittelt zusammen. Das liegt vor allem daran, dass es Heerscharen von Deutschlehrern schaffen, die Lektüre von Kleists Hauptwerk “Der zerbrochne Krug” für noch größere Heerscharen von Schülerinnen und Schülern durch uninspirierten Unterricht zu verderben. Dass Kleist neben seinen Dramen nicht zuletzt auch für seine Novellen bekannt ist, bleibt da häufig auf der Strecke.

Tatsächlich war meine persönliche schulinduzierte Kleist-Abneigung so nachhaltig, dass ich mich erst jetzt dazu durchringen konnte, mit der Lektüre einer Kleist-Novelle eine weitere Bildungslücke in meiner Leserbiographie zu schließen.

Kleist-Novellen

Die Wahl fiel auf den Michael Kohlhaas. Zum einen, weil diese Novelle zum Sinnieren über Recht und Gerechtigkeit inspiriert – Themen, mit denen ich bereits von Berufs wegen zu tun haben muss / darf –, zum anderen, weil letztes Jahr eine Kohlhaas-Verfilmung mit dem von mir hochgeschätzten Mads Mikkelsen erschien.

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Montaigne und die Lebenskunst

“Wie soll ich leben? – Oder das Leben Montaignes in einer Frage und 20 Antworten” – von Sarah Bakewell, C.H. Beck 2013

Was für ein Buch! Was für ein Mensch!

Michel…was? Wer zur Hölle ist das? Ich gebe es zu: Als ich Bakewells Biographie von Michel de Montaigne vor einigen Monaten im Buchladen meines Vertrauens sah, hatte ich keine Ahnung, um wen es sich da handelt, wusste keineswegs, wann der gute Mann gelebt hat und was er überhaupt geschrieben hat. Fasziniert war ich hingegen direkt von dem Konzept des Werkes: Eine Biographie, die eine einzige Frage stellt – “Wie soll ich leben?” – und diese Frage anhand des Lebens von Montaigne in zwanzig verschiedenen Antworten auslotet. Dass hinter diesem Buch mehr als nur die reine Biographie eines Renaissance-Philosophen stecken musste, war mir schnell klar.

Dennoch begann ich die Lektüre zögerlich: Sollte ich wirklich fast 400 Seiten über einen einzelnen Menschen lesen, der vor 500 Jahren lebte? Ich begann, und ich übertreibe nicht: Nach nicht mehr als 31 Seiten hatte Bakewell mich endgültig am Haken. Oder vielmehr Montaigne selbst. Die erste Antwort auf die Leitfrage, die einen kleinen anfänglichen Überblick über Montaignes Leben gibt, lautet: “Habe keine Angst vor dem Tod”. Bereits hier berichtet Bakewell in leichtfüßiger, humorvoller Art davon, welche Ideen und Trick Montaigne sich einfallen ließ, um im Wege einer bewussten Autosuggestion den Widrigkeiten des Lebens zu entkommen. Bereits das erste Kapitel enthält in nuce alles, was das Buch lesenswert macht: Montaignes Lebensfreude, seine philosophische Technik, bei der es sich um eine Art “Best of” aus Stoa, Epikureismus und Skeptizismus handelt, Begeisterungsfähigkeit, Neugier, Liebe, Freundschaft, Verlust und die Heilung des Verlusts durch das Schreiben.

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Wer war Montaigne?

Doch um wen geht es bei dieser Einführung in die Lebenskunst eigentlich? Wer ist es, der dem Leser Ratschläge gibt wie “Lebe den Augenblick!”, “Habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft!”, “Stelle alles in Frage!” oder “Sei gewöhnlich und unvollkommen!”? Montaigne war ein französischer Adeliger aus der Region um Bordeaux, der im Jahre 1533 geboren wurde und damit mitten in die unübersichtlichen Wirren einer Vielzahl kleinerer und größerer französischer Bürgerkriege geriet. Montaigne schaffte es dennoch, trotz dieser Übergangszeit von Spätrenaissance zum Zeitalter der Reformation und der Glaubenskriege, mehr zu werden als ein adeliger Weinbauer: Er war zugleich Jurist, Bürgermeister von Bordeaux, lateinischer Muttersprachler, Stoiker, Skeptiker, Reisender und ganz nebenbei der Begründer der Essayistik. Dadurch wurde er zu einem der meistgelesenen philosophischen Schriftsteller aller Zeiten, der durch seine stets wankelmütige, mäandrierende, stets den Perspektivwechsel suchende Schreibweise Generationen von Lesern fesselte.

Warum das Ganze?

Bakewell schafft es, dem Ganzen noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die über das reine Nacherzählen von Montaignes Leben hinausgeht – was sicherlich allein schon spannend genug wäre. In jeder Beantwortung der Leitfrage springt Bakewell durch die Zeiten. Auf der einen Seite begründet sie Montaignes Gedanken an antike Philosophen und Schriftsteller. Auf der anderen Seite aktualisiert sie Montaignes Gedanken, in dem sie gleichzeitig die Rezeption von Montaignes Schaffen durch die Jahrhunderte mitliefert. So treten als Vorbilder Montaignes unter anderem Seneca, Epikur und Plutarch auf, als Kritiker René Descartes und Blaise Pascal, als von Montaigne begeisterte Leser so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Rousseau, Diderot, Friedrich Nietzsche und Stefan Zweig.

All das ist spektakulär und fesselnd (obwohl das Buch einen schreiend rosa Einband hat): Bakewell entwirft ein Panorama des guten Lebens, ein Fest der Lebenskunst, indem sie Montaigne in den Mittelpunkt stellt und seine von Lebensfreude, Selbstbehauptung und Begeisterungsfähigkeit geprägte Denkweise in diversen Kontexten und mit Hilfe dutzender historischer Personen auf unser heutiges Leben bezieht.

So entsteht tatsächlich eine Anleitung zum guten Leben, die dazu höchst lesenswert ist. Jeder muss die Frage “Wie soll ich leben?” für sich selbst beantworten, jeden Tag aufs Neue. Aber Bakewells zwanzig Antworten, destilliert aus der gedanklichen Essenz eines großartigen zeitlosen Philosophen, sind beileibe keine schlechte Richtschnur.

“Tage am Strand”: Never judge a book by its movie

Vor wenigen Wochen ist Doris Lessing gestorben. Leider flog diese große, alte Dame der Literatur lange Zeit vollständig unter meinem Radar. Dass es tatsächlich ein eBook sein sollte, mit dem ich mich dem Werk Lessings annähere, hätte ich nicht gedacht. Meine Erfahrungen mit der digitalen Leserei habe ich hier verarbeitet. Das Trauma lässt nach…  Hier soll es nun, unabhängig von der Nutzung absonderlicher neuer Techniken, inhaltlich um meinen Eindruck von Lessings “Tage am Strand” gehen. Da “Tage am Strand” aktuell im Kino läuft, bietet sich der Vergleich mit dem Film an.

Das Buch

“Tage am Strand” ist der deutsche Titel der Erzählung “The Grandmothers”, die 2004 erschien. Das eBook habe ich von Hoffmann und Campe bezogen, bei der die meisten Werke Lessings auf deutscher Sprache erschienen sind.

Die Geschichte handelt von zwei besten Freundinnen, Lillian und Rozeanne, deren Leben von der Schulzeit an parallel verläuft: Beide sind hübsch, beide sind in dem, was sie tun, erfolgreich, beide heiraten, beide bekommen einen Sohn, und all das geschieht jeweils fast gleichzeitig. Die Geschichte erzählt das Leben der beiden Protagonistinnen in einer kurzen Rückblende zu Beginn des Buches, legt den Fokus aber dann auf die eigentliche “unerhörte Begebenheit”: Nämlich darauf, dass die Frauen, als ihre Söhne gerade dabei sind, erwachsen zu werden und sich der Volljährigkeit nähern, eine Liebesbeziehung mit dem Sohn der jeweils anderen beginnen. Weitere Details dazu und zum Fortlauf der Geschichte werde ich nicht verraten, aber dass diese generationenübergreifende “Vierecks-Beziehung” krachend scheitert, dürfte klar sein. Alles andere wäre Kitsch, aber dazu unten mehr.

“Leichtfüßig” ist das Wort, das mir als erstes einfiel, als ich über den Stil Lessings nachdachte. Leichtfüßig ist die Geschichte geschrieben, heiter und dennoch stets ironisch-lakonisch. Der Text kennt keinen Kitsch: Zwar ist die Geschichte mit all den Parallelen im Leben der beiden “Grandmothers” recht konstruiert, aber nicht unrealistisch. Lessing beschreibt ironisch, wie einfach es die Frauen und ihre Söhne haben: Es handelt sich um zwei wohlhabende Familien, die die meiste Zeit am Strand verbringen. Wahre Probleme gibt es in dieser sonnengefluteten Welt schöner älter werdender weiblicher und scheinbar immer schön bleibender männlicher Körper nicht. Bis die Zeit zuschlägt, und das mit einer gehörigen Wucht, die das Buch allemal lesenswert macht.

Ich weiß nicht, ob “Tage am Strand” typisch ist für das Werk Lessings, aber als leicht zugänglicher Einstieg in ihre Literatur ist es passend. Mir hat die Geschichte gefallen, wenngleich sie recht stark von all dem abweicht, was ich sonst so lese. Dennoch ist es keine klassische “Frauenliteratur”, es geht nicht primär um die Gedankenwelt der beiden Protagonistinnen, es geht um das Älterwerden, das Die-Zeit-Festhalten-Wollen und um zwei “unerhörte” Liebesbeziehungen. Man liest das dünne Werk in einer guten Stunde durch – und diese Stunde ist ganz sicher nicht verschenkt.

Der Film

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Anne Fontaine hat “Tage am Strand” mit Naomi Watts in der Rolle der Lillian und Robin Wright in der Rolle der Rozeanne verfilmt. Und es ist ihr leider gründlich misslungen.

Die ironischen Untertöne der Buchvorlage, die die scheinbar so perfekte, heile Welt, in der die beiden Frauen leben, karikieren, finden im Film nicht statt. Handwerklich ist der Film vollends solide und die Schauspieler sind jederzeit glaubwürdig. Aber bereits bei den Dialogen fängt es an: Von Kitsch triefende Kurzsentenzen über Herzschmerz und Seelenleid werden der Vorlage nicht gerecht.

Auch die Settings sind leider etwas zu pathetisch gewählt: Die scheinbar perfekte Welt der Damen durch ebenso makellose Landschaften und Wohnräume zu stützen, ist eine gute Idee, aber dann gehört beides auch, wie im Buch, ironisch gebrochen. Alles ist vorhersehbar: Eine Geschichte von zwei älter werdenden Frauen, die sich irgendwann mit dem Sohn der jeweils anderen einlassen, bis es zur Katastrophe kommt. Mehr nicht. Die großen Themen, die die literarische Vorlage streift, werden hier links liegen gelassen. Was bleibt, ist Kitsch.

Schade, das wird Frau Lessing nicht gerecht. Und wiedermal hat sich bestätigt: Never judge a book by its movie.

PS:
Wie es der „Zufall“ so will, hat der Herr Winterling von 54books vor kurzem exakt das gleiche Buch gelesen und den gleichen Film gesehen – und auch noch darüber geschrieben!