Der kleine Lord – Frances H. Burnett

Dennoch jubilierte der hitzige alte Mann innerlich beim Anblick dieses starken, hübschen Jungen, der sein Enkelsohn war. Triumphierend gewahrte er, wie unerschrocken das Kind ihm ins Gesicht blickte, die Hand noch immer auf dem Hals des riesigen Hundes. Es gefiel dem herrischen alten Edelmann im Innersten, dass der Junge keine Schüchternheit und keine Furcht verriet, weder vor ihm noch vor seinem Hund. Cedric sah ihn an, wie er zuvor die Portiersfrau und die Haushälterin angesehen hatte, und trat nah an ihn heran. „Bist du der Graf?“, fragte er. „Ich bin dein Enkel, den Mr. Havisham geholt hat – Lord Fauntleroy.“

Never judge a book by its movie – ein eherner Grundsatz, der nicht bestehen würde, wenn es mehr gute Literaturverfilmungen gäbe. Jedes Jahr zu Weihnachten kann man sich jedoch eine gelungene filmisches Adaption im Fernsehen anschauen: Die Verfilmung des Weihnachtsklassikers „Der kleine Lord“ von Frances H. Burnett aus dem Jahre 1980 ist selbst ein Weihnachtsklassiker geworden. In seltenen Fällen wie diesen, wo der Film qualitativ an das Buch heranreicht, kehrt sich das Bekanntheitsverhältnis nicht selten um: Die allermeisten werden den kleinen Lord Fauntleroy nur aus dem Film kennen.

Der Homunculus Verlag tritt an, dies zu ändern – mit einer vor Kurzem erschienenen Neuausgabe des klassischen Stoffes.

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Die Geschichte ist schnell erzählt und wohl hinlänglich aus dem Film bekannt: Der kleine Cedric, ein scheinbar waschechter New Yorker Siebenjähriger, erfährt, dass er in Wirklichkeit von einem britischen Lord abstammt. Gemeinsam mit seiner amerikanischen (und deshalb vom urbritischen Großvater verhassten) Mutter siedelt er über auf die Insel – und verändert dort das Leben seines Großvaters für immer. Das weihnachtliche Happy End ist garantiert.

„Der kleine Lord“ ist ein Kinderbuch, und so muss man es auch lesen. Wenngleich stets augenzwinkernd, so ist der Plot dennoch stets ein wenig zu glatt, ein wenig zu durchsichtig. Das Buch soll nicht aufwühlen und aufrühren, auch nicht primär nachdenklich machen – sondern ans Herz gehen, und das gelingt. Auch, wenn die aus Manchester stammende Frances H. Burnett (1849-1924) sicherlich keine begnadete Erzählerin ist und ihre Sprache als konventionell gelten muss, so traf und trifft sie gerade mit der lebhaften Beschreibung der Kontraste zwischen jung und alt, zwischen den USA und Großbritannien, zwischen der Arbeiterklasse und dem Hochadel ins Schwarze.

Die Autorin schrieb sich mit dem kleinen Lord in die Herzen hunderttausender Leser – jung wie alt. Dabei hatte sie auch Glück: Die für die damalige Zeit innovativen, lebhaften Illustrationen von Reginald Bathurst Birch verfehlten nicht ihre Wirkung. Mit der Optik und vor allem der Kleidung des jungen Cedric löste die Bebilderung des Textes nicht nur im Britischen Empire den wohl ersten Trend in der Geschichte der Kindermode aus.

Der Verlag ergänzt den Text, der – von der Verlegerin Laura Jacobi nach eigener Aussage „behutsam überarbeitet“ – der deutschen Erstübersetzung von Emmy Becher folgt, um die Illustrationen Birchs. Damit kommt die Edition im Hinblick auf Text und Illustration gewissermaßen den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten frühen Ausgaben nahe. Dies zeigt sich auch im Schriftbild (Bodoni Antiqua). Insgesamt ist der wertige gebundene Pappband genau das Richtige für Leser, die bei dem Begriff Kinderbuch an etwas anderes denken als „Skulduggery Pleasant“ & Co.

Am Ende dieses Kinderbuchklassikers schafft es der kleine Protagonist, die Klassenunterschiede, Altersdifferenzen und den Standesdünkel zu überwinden und alle Beteiligten miteinander zu versöhnen. Und darum geht es schließlich an Weihnachten, oder?