“Im Westen nichts Neues”: Ist das noch ein Comic? Eickmeyers mutige Adaption des Klassikers

“Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich. Ich glaube, wir sind verloren.”

Ich hätt’s so gern verrissen

Zu gerne hätte ich mal wieder einen gepflegten Verriss geschrieben. Mir juckte es bereits in den Fingern. Tatsächlich habe ich mir vor der Lektüre der Graphic Novel zu Erich Maria Remarques KlassikerIm Westen nichts Neues”, die vor kurzem bei Splitter erschien, vorgenommen, besonders hart mit der Adaption ins Gericht zu gehen. Ich schätze den Stoff so sehr, dass eine jede Adaption wirklich gelungen sein muss, um meine Zustimmung zu finden. Zum einen, da “Im Westen nichts Neues” einer der wirkmächtigsten Antikriegstexte der deutschen Sprache überhaupt ist. Zum anderen, da der Autor Remarque und ich mit dem schönen Osnabrück die Heimatstadt teilen.

Tja, von Verriss kann keine Rede sein. Mit seinem Comic ist Peter Eickmeyer ein großer Wurf gelungen.

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Format zwischen den Welten

Die Handlung dürfte vielen Literaturfreunden wohlbekannt sein: Der 19jährige Paul Bäumer meldet sich in der Frühphase des 1. Weltkriegs mit drei Klassenkameraden freiwillig zum Kriegsdienst. In der Folgezeit durchlebt der anfänglich von der allseitigen Euphorie angesteckte Protagonist Bäumer inmitten des Stellungskrieges an der Westfront ein psychisches und körperliches Martyrium, das ihn, kaum erwachsen geworden, auf allen Ebenen seelisch, charakterlich und physisch zerstört.

So eingängig und wertvoll der Ursprungstext ist, so lohnend erscheint mir hier die Betrachtung der Form. Wie wurde die über 85 Jahre alte Quelle in ein Comic (oder von mir aus auch eine “Graphic Novel”) verwandelt?

Eickmeyer gestaltete die Zeichnungen und die Kolorierung; seine Frau Gaby von Borstel bearbeitete den remarqueschen Ausgangstext. Die Art und Weise, wie sie das taten, lässt dabei den geneigten Comicleser zunächst einmal stocken. Auf den ersten Blick gibt es nur gelegentlich eine Panelstruktur. Sprechblasen sucht man im gesamten Werk vergebens. Vielmehr kann “Im Westen nichts Neues” voreilig als illustrierter Roman beschrieben werden.

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Und dann auch noch als ein illustrierter Roman, dessen Text im Vergleich zum Original stark gekürzt wurde. Dabei beschränkt sich von Borstel auf das Wesentliche. Im Vergleich zum Original erhalten die Szenen im Schützengraben hier einen noch größeren Raum. Das steigert, sicherlich ganz bewusst, noch einmal die Drastik der Adaption.

Doch wie verhält es sich mit der optischen Gestaltung?
Auch bei Twitter habe ich Stimmen vernommen, die Kritik an der Umsetzung üben. Ist das noch ein Comic? Tatsächlich ging auch mein Ersteindruck in genau die selbe Richtung. Doch drängt sich andererseits zum einen die Frage auf, was an einem illustrierten Roman so schlimm ist. Zugegeben, es hätte in diesem Fall nicht unbedingt “Graphic Novel” auf dem Cover stehen müssen. Zum anderen jedoch ist Eickmeyers “Im Westen nichts Neues” meiner Meinung nach durchaus formal ein Comic (und damit auch eine GraNo) – und zwar eine mutige, progressive Comicadaption dazu.

Tatsächlich setzt Eickmeyer eine sequenzielle Panelstruktur nur zurückhaltend ein. Dies erscheint jedoch in anderem Licht, wenn man die zunächst als Hintergründe gegebenen, großflächigen Bilder, auf denen der Text schwebt, als Splashpanels begreift. So gesehen, hat jede einzelne Seite des Werks durchaus eine sequenzielle Bildfolge.

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Auch wenn keine Sprechblasen vorkommen, setzen Eickmeyer und von Borstel gelegentlich durchaus die direkte Rede ein und heben diese auch deutlich vom Rest ab. Zwar geschieht dies im Comic nur einige wenige Male – immer entsteht dadurch jedoch jeweils ein atmosphärisches Zitat, das pars pro toto die aktuelle Sequenz inhaltlich stützt.

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Eickmeyers Kunst ist subtil da, wo sie es sein muss, und roh, intensiv, drastisch da, wo dieser Antikriegstext es verlangt. Vor allem die stets passgenaue Mimik der Personen ist gelungen, ebenso sind die teils mehr, teils weniger versteckten grafischen Zitate – von Picassos Guernica bis zu Frank Hurleys Fotografie – gelungen.

Lohnende Lektüre

Eickmeyers Übertragung des Klassikers in ein anderes Medium ist allein aufgrund der oben genannten Abkehr vom zeitweise allzu eingefahrenen Kasten-Sprechblase-Kasten-Denken aller Ehren wert. Zudem ist die gebundene Ausgabe, wie bei Splitter üblich, hervorragend verarbeitet. Das Hochglanzpapier (was mir immer wichtig ist, auch wenn die weniger bibliophilen Zeitgenossen jetzt die Augen verdrehen) ist eine Spur dicker als sonst häufig. Ein 16 seitiger Anhang, der über Remarques Leben und Werk sowie die Entstehung der Comicadation informiert, weiß ebenfalls zu gefallen.

Bei mir hat sich bereits kurz, nachdem ich die Frage “Ist das noch ein Comic?” für mich bejaht habe, das damalige Gefühl eingestellt, das ich beim ersten Lesen von “Im Westen nichts Neues” vor über 10 Jahren hatte: Eine Mischung aus Ungläubigkeit und Beklemmung. Trotz der Kenntnis des Endes habe ich erneut mit Paul und seinen Kameraden mitgelitten – nur dieses Mal in sequenziellen Bildern.

Ich bin gespannt und froh, dass Eickmeyer und von Borstel bereits an einer weiteren Comicadaption arbeiten. Weiter so!

James Joyce – Biographie als Comic: Innenansichten eines Genies

Porträt eines Dubliners

Am 16. Juni dieses Jahres steht ein besonderes Ereignis vor der Tür. Nein, ich meine nicht das erste Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM, sondern den Bloomsday, der sich am 16. Juni zum 110. Mal jährt. Nachdem ich vor einiger Zeit das Projekt #ReadingUlysses ins Leben rief, freue ich mich immer über jeden Informationsfetzen, den ich über den großartigen James Joyce in die Finger bekommen kann. Als dann vor kurzem bei Egmont eine Comicbiographie über das Genie aus Dublin erschien, war klar, dass daran kein Weg vorbei führte.

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Illustrierte Lebenswege

Der spanische Comickünstler Alfonso Zapico zeichnet mit „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ mit viel Liebe zum Detail das unstete Leben von Joyce nach. Dabei verbindet er zwei scheinbar gegensätzliche Welten: Die ganz klassische Biographie mit dem Comic. Zapico beginnt bei Adam und Eva, indem zunächst einmal der Urgroßvater des kleinen James zu Wort kommt. Das Comic endet mit Joyces Tod und mit einigen Gedanken zum künstlerischen Nachhall des großen Dubliners. Dazwischen wird Joyces Leben streng chronologisch nacherzählt – und genau so, wie Joyce das Leben, den Alkohol, die Frauen und das Schreiben und vollen Zügen genoss, merkt man, dass Zapico gr0ße Freude an der Schaffung dieses Comics hatte.

Joyce wächst in Dublin auf, und auf den ersten Seiten lernen wir seine schwierige Familie und seine nicht minder komplizierten Schulfreunde kennen. Bei der Vielzahl der Personen, die Joyce auf seinem Lebensweg begleitet haben, kann man schnell den Überblick verlieren, sodass Zapico alle wichtigen Personen jeweils einzeln in einem kleinen Panel vorstellt:

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Joyce hat einen großen Verschleiß an Freunden, Weggefährten, Verlegern, Sympathisanten, Feinden, Saufkumpanen und vor allem Frauen, sodass diese Technik der Personenbeschreibung dem Comic sehr gut tut. Relativ früh in seinem Leben lernt Joyce jedoch Nora Barnacle kennen, die von da an die große und – neben der Literatur – einzige Konstante in Joyces Leben sein wird. Mit dem jungen Paar erlebt der Leser eine Odyssee (ja, richtig gelesen) durch verschiedenste europäische Städte, bei der sich Joyce künstlerisch immer stärker von der althergebrachten Literatur emanzipiert und schließlich (neben Franz Kafka) zu einem der wichtigsten Wegbereiter der modernen Literatur wird.

Getuschte Dynamik

Wir werden beim Lesen Zeuge, wie der Protagonist dieser lesenswerten Biographie schreibt, wenn er nicht im Bordell ist, im Bordell ist, wenn er nicht gerade mit Samuel Beckett in einer Bar sitzt, und wie er in einer Bar sitzt, wenn er nicht gerade schreibt. Joyce war unruhig und launenhaft, exzentrisch, arrogant, überheblich und doch liebevoll und verletzlich, glaubt man Zapico, und wir haben aufgrund der umfassenden Recherche des Autors allen Grund, ihm zu glauben.

Dieses hochdynamische Leben kleidet Zapico in ebenso lebendige Panels: Sein Strich ist nie starr, immer in Bewegung. Die getuschten Schwarzweiß-Zeichnungen gefallen mir, trotz einer latenten Abneigung gegen reines S/W, sehr. Wenngleich die Gesichter teilweise etwas zu cartoonig sind, besticht das Comic doch insgesamt durch einen enorm hohen Detailgrad. Zeichnerisch und in Bezug auf die Recherche eine echte Fleißarbeit von Zapico, den man dafür nur loben kann.

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Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: So sehr das Leben Joyces beleuchtet wird, so wenig wird inhaltlich über dessen Literatur gesprochen. Es wird nachvollzogen, wie Joyce seine berühmten Werke wie „A Portait of the Artist as a Young Man“, „Ulysses“ oder „Finnegans Wake“ schreibt, es fehlt dabei jedoch ein kleiner Ausflug in diese Werke hinein: Ich hätte mir ein paar Exkursionen in die Welt von Stephen Dedalus oder Leopold Bloom gewünscht, wenn auch nur für wenige Panels.

Fazit

Aber das ist Jammern auf hohem Niveau: „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ ist eine gelungene Biographie über einen der interessantesten Autoren des 20. Jahrhunderts. Ich habe die 224 Seiten an einem Abend gelesen und war hin und weg. Aber auch für Personen, die nicht direkt zum Kreis der Joyceaner gehören, sei diese Comicbiographie ans Herz gelegt.

In einem unbekannten Land…

…vor gar nicht allzu langer Zeit…

Im Herbst steht ein Jubiläum ins Haus: Am 09. November 2014 jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal. Weltpolitisch betrachtet sind 25 Jahre keine allzu lange Zeit; jedoch hat sich in den Jahren seit der Wende in unserem geeinten Land soviel getan, dass die Spuren der DDR-Vergangenheit mehr und mehr verblassen.

Auf Spurensuche begibt sich auch der Berliner Comic-Künstler Mawil, der 1976 in Ostberlin geboren wurde und somit die letzten DDR-Jahre noch als Kind und Jugendlicher erlebte. Nach über sieben Jahren legt er mit “Kinderland” sein neues Comic vor, dessen fast 300 farbenfrohe Seiten heute am GratisComicTag bei Reprodukt erscheinen. Ohne die Machenschaften des ostdeutschen (Überwachungs-)Staates zu verklären oder in “Ostalgie” zu verfallen, ergründet Mawil pointiert, wie Kinderaugen das ganz alltägliche Leben in der DDR wahrnahmen.

Pioniere, FDJ und Tischtennis

Mirco ist 13, für sein Alter etwas klein geraten und dazu auch noch recht nah am Wasser gebaut. Er geht in die 7. Klasse der Tamara-Bunke-Schule in Ostberlin, schleppt sich mehr schlecht als recht zu dem einen, richtigen Klavierunterricht und zu dem anderen “Klavierunterricht”, das heißt zu den jungen Pionieren. In der Klasse scheint er mit den Mädchen, die ihn zumindest dulden, besser klarzukommen als mit den Jungs, die ihn bestenfalls ignorieren.

Immer wieder hat er Streit mit den draufgängerischen, viel älteren FDJlern Bolzen und Prinz, die ihm das Leben schwer machen. Eines Tages lernt er Torsten kennen, den unangepassten neuen Mitschüler, dem Zuspätkommen nichts ausmacht und der tatsächlich eine Digitaluhr aus dem Westen am Handgelenk trägt.

Als Mirco seine Eltern eines Tages dabei belauscht, wie diese vom “Rübermachen” sprechen, bekommt er es mit der Angst zu tun. Ablenkung findet der unsichere Siebtklässler nur im Tischtennis, wo er am liebsten ein Turnier für die ganze Schule organisieren würde. Doch das ist am Pioniergeburtstag natürlich nicht erlaubt. Und sowieso hat die DDR die Sportförderung von Tischtennis eingestellt, da die Chinesen, die ihren ganz eigenen Sozialismus betreiben, darin zu gut geworden sind.

Die Ereignisse verdichten und überschlagen sich, bis irgendwann der 09. November naht. Und damit eine Nacht, die alles verändert.

Konsequente Kinderaugen

“Kinderland” ist ein kleiner Geniestreich. Mawil hält konsequent die kindliche Perspektive durch, jede Szene ist aus Mircos Sicht geschrieben und gezeichnet, sodass der Leser schon nach wenigen Panels mitfiebert – und sich vielleicht ein wenig an seine eigene Kindheit erinnert, egal ob ins Ost oder West. Die politischen Umstände und Hintergründe lässt Mawil dabei stets sehr subtil einfließen. So mag auf einem Tisch beiläufig Westpresse wie der SPIEGEL liegen oder eine Mitschülerin mag plötzlich mitsamt Familie verschwinden. Mirco versteht all dies nicht richtig, und viel wichtiger ist ohnehin das Tischtennis. Aber Mirco und damit auch der Leser spürt, dass das Politische im Alltag hintergründig allgegenwärtig ist.

Die äußere Struktur der Panels ist genau so streng wie der zeichnerische Inhalt frei und jovial ist: In starren, fast nie gebrochenen, stets mit fettem Strich umrandeten Panels brennt Mawil jeweils ein kleines Feuerwerk an Bonbonfarben und professionell-naiven Zeichnungen ab. Das Ganze ist, auch wenn ich das Wort nicht besonders mag, “cartoonig” – aber ganz sicher nie albern. Mawil trifft jeden Ton.

Das gilt auch für die grandiosen Dialoge. Mawil lässt ganz bewusst die Jugendsprache der späten Achtziger wiederaufleben. Das ist gewöhnungsbedürftig, schafft aber eine umso realistischere Atmosphäre. Getragen wird der Text von Lettering und Soundeffekten, die genau so schrill und bunt sind wie die Zeichnungen und mit diesen bestens harmonieren.

Fazit

“Kinderland” ist eine wunderbare Erzählung aus einem Guss. Mawil schafft es, das Medium Comic so kohärent zu nutzen, wie ich es lange nicht mehr gelesen habe.

Wer sich für eine realistische, subtil politische und keinesfalls verklärende Betrachtung des untergegangenen Nachbarlands interessiert, sollte “Kinderland” unbedingt eine Chance geben. Dieses Comic ist für alle Altersklassen geeignet und ebenso für Comic-Aficionados wie für Neueinsteiger in die Welt der Sprechblasen zu empfehlen.

Ein ganz großes Lob an Mawil nach Berlin!