Reading Ulysses #0

Alles begann im Matheunterricht. Einer Disziplin, die ich wie keine andere zu Schulzeiten gehasst habe. Die meisten Inhalte aus unseren Mathestunden, von der Kurvendiskussion über Integrale bis hin zu den binomischen Formeln habe ich erfolgreich verdrängt. Eines aber blieb in Erinnerung: Das war der Tag, an dem unser Mathelehrer plötzlich eine volle Unterrichtsstunde von James Joyces “Ulysses” sprach. Es war der 16. Juni 2004 und damit der 100. Bloomsday. Seine wenig interessierten Schüler damit zu behelligen war die Art und Weise, auf die unser Mathelehrer die Feierlichkeiten dieses Tages beging.

Ich hörte gebannt zu und verstand nicht einmal die Hälfte. Da ist also dieses Buch von Mr Joyce, das keiner versteht, aber jeder lesen möchte oder behauptet, gelesen zu haben – nach Hemingway also exakt das, was einen echten Klassiker ausmacht.

monroeulysses

Wenn sogar Marilyn Monroe Ulysses liest, soll dieses Unwissen nun ein Ende haben. Diese literarische Bildungslücke gehört geschlossen. Eines der unzugänglichsten Werke der Weltliteratur will erobert werden.

Ich werde Ulysses lesen. Doch ich möchte das nicht allein tun!

Daher rufe ich das Projekt “Reading Ulysses” aus.
Auf Twitter gab es dazu schon ein kleines Vorgeplänkel.

Die Eckdaten des Projekts:

1. Jeder Teilnehmer liest James Joyces Ulysses, auf welcher Sprache er möchte und so schnell oder langsam, wie er will.

2. Jeder Teilnehmer schreibt irgendwann im Laufe des Lesens einen Zwischenstand über die Lektüre. Das kann der Ersteindruck sein, das Gejammer über die Komplexität, das Hochgefühl in der Mitte des Werks oder die Prognosen vor dem Ende.

3. Jeder Teilnehmer schreibt nach der Lektüre (oder nach dem – absolut erlaubten – Abbruch der Lektüre) sein persönliches Fazit oder eine kleine Rezension.

Das war’s, mehr Regeln sind meiner Meinung nach nicht nötig. Für weitere Ideen bin ich jedoch immer offen (schreibt mir).

Alle Texte können gerne hier veröffentlicht werden. Wer selber einen Literaturblog betreibt, kann beim Projekt gerne ebenfalls mitmachen – gegenseitiges Verlinken und Veröffentlichen der Ulysses-Leseerfahrungen ist ausdrücklich erwünscht!

joyce

Mr Joyce und ich würden uns über viele Mitstreiter freuen!

Joe Sacco: Reportagen

“Es wäre gut, wenn noch mehr Comicautoren künstlerische Risiken eingehen würden.” – Joe Sacco

Ich gebe es zu: Mit den bisherigen Arbeiten Saccos bin ich nicht warm geworden. Zu düster die stets krisenbezogenen Themen rund um Gaza, Bosnien und Palästina, zu verworren der Erzählstil – hinter diesen Scheinargumenten habe ich mich versteckt und Sacco immer recht schnell wieder zurück ins Regal gestellt.

Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.

SaccoCover

Als vor kurzem in der Edition Moderne “Reportagen” erschien – ein Band mit kürzeren Arbeiten Saccos, die nicht auf einen Ort und ein Thema beschränkt sind – musste ich zugreifen. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Erst recht, wenn derjenige Joe Sacco heißt und seit einigen Jahrzehnten erfolgreich dabei ist, sowohl Comic als auch Journalismus auf den Kopf zu stellen.

“Reportagen” führt Sacco, der auch hier die subjektive Seite nicht ausblendet und selbst, wenngleich teilweise sehr dezent, in den Comics auftritt, unter anderem nach Den Haag und nach Malta.

Diese beiden Arbeiten sind es, die zu den gelungensten des Werks gehören. In Den Haag beobachtet Sacco die Arbeit des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. Wenngleich diese Reportage zu kurz geraten ist, um die Schwierigkeiten, in denen sich das Gericht befindet, in angemessener Tiefe darzustellen (das wäre einen Band vom Umfang der anderen Werke Saccos definitiv wert), erlangt der Leser doch einen kleinen Eindruck von dem Gefühl im Umgang mit dem Problem, aus Kriegschaos Gerechtigkeit zu formen.

Auf Malta, dem Geburtsort Saccos, spürt er dem Leid der afrikanischen Flüchtlinge nach, für die Malta häufig kein Zufluchtsort, sondern der Anfang vom Ende ist. Diese Reportage ist vor dem Hintergrund der Tragödie von Lampedusa und der damit einhergehenden politischen (Schein)Diskussion in der EU und hierzulande um den Umgang mit Flüchtlingen brandaktuell. Sacco zeigt exemplarisch auf, wie eine typische Fluch aus Afrika in die EU abläuft und welche Motive ihr zugrunde liegen. Natürlich kommen auch die Malteser selbst zu Wort und können nach Herzenslust ihrer Angst vor der Überfremdung (die aus maltesischer Perspektive zumindest nachvollziehbarer erscheint) Luft machen.

All das ist in Saccos bekanntem, extrem texturbetontem Schwarz-Weiß-Stil gekleidet. Das muss man mögen, ich halte diese Art der Nutzung von Schraffuren und Textur für zu viel des Guten. Sacco ist niemand, der grafisch allzu subtil zu Werke geht. Stark sind die abwechslungsreichen Physiognomien – keines der Gesichter ähnelt dem anderen, jeder der gezeigten Menschen ist auf seine Weise eine individueller Leidensgenosse, egal an welchem Krisenort.

Jede Reportage wird von kurzen, prägnanten und durchaus selbstkritischen Anmerkungen des Autors am Ende ergänzt.

saccoreportagen

Ist das nun guter Journalismus? Ist guter Journalismus durch das Medium Comic überhaupt möglich? Ja und ja. Saccos Reportagen haben narrative Elemente und sind, allein schon aufgrund des grafischen Mediums, naturgegeben subjektiver als ein rein berichtender Text es wäre. Dennoch macht Sacco das, was meiner Meinung nach guten Journalismus ausmacht: Sich der Wahrheit mit den Mitteln des Mediums, das er nutzt, möglichst stark anzunähern. Das gelingt ihm hervorragend.

Wie es aussieht, werden nun auch Saccos andere Werke nicht mehr allzu lang im Regal verharren müssen.

Dein, mein – unser Buch?

Warum das Schreiben einsam bleiben muss

Ich bin ein großer Freund des “Social Reading”. Zunächst assoziiert man damit neumediale Buchcommunities á la GoodReads, LovelyBooks, WasLiestDu oder diesen neuen Streich von einem gewissen Herrn Lobo. Das mag den Eindruck erwecken, das soziale Lesen sei etwas Neues. Aber weit gefehlt: Social Reading gibt es bereits so lange, wie es Bücher gibt.

Im 19. Jahrhundert gehörte die gepflegte Konversation im Lesezirkel über Prosa und Poesie zum guten Ton nicht nur der höchsten gesellschaftlichen Schichten, sondern auch in weiten Teilen des Bürgertums. Scheinbar ist diese Freizeitbeschäftigung – was die gesellschaftliche Breite und die Zahl der sozial Lesenden – in den letzten gut hundert Jahren ein wenig eingeschlafen, um nun über das Netz eine Renaissance zu erleben. Doch nicht nur im Netz, sondern auch offline lässt sich hervorragend sprechen über Kurzgeschichten, Romane, Comics, Gedichte – kurz, alles, was das literarische Herz begehrt. Ich bin in keiner der oben genannten Lesecommunities aktiv. Da lobe ich mir meinen Comiclesekreis.

So weit, so wünschenswert – das gemeinsame Lesen lebt und weist eine Vielzahl an Erscheinungsformen auf. Was ich jedoch gestern erneut gelesen habe, ist etwas ganz Anderes – ich nenne es mal “Social Writing”. Und genau das sehe ich sehr kritisch.

schreiberei

Gestern bekam ich eine automatisierte eMail des Pressezentrums der Frankfurter Buchmesse mit einer Pressemitteilung zu “Frankfurt Storydrive”. Dort ging es unter anderem um neue Konzepte im Bereich Storytelling und Demokratisierung der Buchbranche. Zum Thema Social Writing heißt es:

Beispielhaft für die Buchbranche demonstrierten das der britische Verleger John Mitchinson und Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky aus Russland. Mit seiner in der Buchbranche bislang einzigartigen Publishing- und Finanzierungsplattform Unbound führt Mitchinson Schriftsteller und Leser bereits im Prozess des Schreibens zusammen. Leser können mittels finanziellen Beiträgen in verschiedenen Größenordnungen kreativen Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten nehmen. Am Ende steht die Wandlung der Nutzer von passiven Konsumenten zu Marketer, Co-Produzenten und Autoren. Das vor zwei Jahren gegründete Online-Portal begleitete bereits 80 Buchprojekte und hat 35.000 registrierte Nutzer.

Das ließ mich stutzen. “Kreativer Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten.” Was zum Henker bedeutet das?

Lässt ein Autor künftig seine Leserschaft über das Ende eines Romans abstimmen? Gibt es bald das große Mitspracherecht der Leser zur Frage, welche Figuren in einer Geschichte überleben dürfen und welche nicht? Welche Figuren sich ineinander verlieben, wer wen hasst, wer mit wem interagiert? Oder noch schlimmer: Lassen Verlage demnächst ihre Kunden über das Netz entscheiden, welche Art von Büchern die Verlagsautoren schreiben sollen?

Wo bitte bleibt da die Überraschung? Wo die Freude darüber, einen Autor entdeckt zu haben, wenn meine Stimme im Netz ihn mit geschaffen hat?

Und nun der Knaller: Es sind die “finanziellen Beiträge in verschiedenen Größenordnungen”, die den kreativen Einfluss bestimmen. Aha. Der Leser mit gut gefülltem Bankkonto, der den Protagonisten einer Geschichte abgrundtief hasst, überweist 5.000,00 € auf das Autoren- bzw. Verlagskonto und schwupps, der Protagonist wird entsorgt.

Das ist literarischer Auftragsmord.

Social Writing funktioniert im Wissenschaftsbetrieb, bei der gemeinschaftlichen Arbeit an Sachtexten. Aber auch nur da. Es mag Ausnahmen geben – aber:

Hätte Kafka, das Epizentrum der Einsamkeit, seine “Verwandlung” geschrieben, so wie sie ist – wenn er zuvor hunderte potentielle Leser befragt hätte? Hätte Goethe den Werther verfasst, blutjung, wenn er sich der Meinung der Masse gebeugt hätte? Hätte Thomas Mann die Buddenbrooks geschrieben, wenn er im damaligen Lübeck vorher eine Umfrage gestartet hätte?

Social Writing up my ass. Das Schreiben muss einsam bleiben.