Joe Sacco: “Der Erste Weltkrieg–Die Schlacht an der Somme”

“Le­po­rel­lo, das oder der; Substantiv, n, m; Le|po|rel|lo; harmonikaartig gefalteter, breiter und längerer Streifen Papier, besonders Leporellobuch; Kurzform für: Leporelloalbum.”
Duden – Die deutsche Rechtschreibung, 26. Auflage 2013

Die Katastrophe in der Katastrophe

Gestern vor 100 Jahren erschallten die Schüsse des Attentäters Gavrilo Princip durch Sarajevo und läuteten den Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Nach dem Tod des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand überschlugen sich die Ereignisse, was fünf Wochen später im Beginn des Ersten Weltkriegs mündete, den viele Historiker als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts betrachten.

Eine der verheerendsten Schlachten des Ersten Weltkriegs und der Militärgeschichte überhaupt war die Schlacht an der Somme. Am 01. Juli 1916 begann eine britisch-französische Großoffensive gegen die deutschen Truppen im Norden Frankreichs, bei der bereits am ersten Tag der Schlacht über 20.000 Soldaten fielen.

Der amerikanisch-maltesische Comic-Journalist Joe Sacco begibt sich mit seiner als deutsch-französischer Doppelübersetzung bei der Edition Moderne erschienenen neuen Arbeit “Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme” mitten ins Geschehen: In einem knapp 7 Meter langen Leporello zeichnet er chronologisch den ersten Schlachttag aus britischer Perspektive nach.

Sacco auf neuen Wegen

Mit seiner erstmals rein historischen Arbeit betritt Sacco gleich in doppelter Hinsicht Neuland: Der Innovator des Comic-Journalismus, der stets seinen persönlichen Ansatz subjektiver Berichterstattung verfolgt, legt zum einen erstmals eine dokumentarische Arbeit über Geschehnisse vor, bei denen er selbst nicht mittelbar oder unmittelbar anwesend war.

Zum anderen nutzt er ein völlig neues Medium: Das Faltbuch, oder, wie gesagt, Leporello. Das Werk besteht aus 24 Tafeln, die ein fließendes Panorama der Schlacht ergeben. Beginnend mit dem frühmorgendlichen Spaziergang des britischen Befehlshabers Douglas Haig zeigt Sacco zunächst die letzten Vorbereitungen der Offensive, die die deutsche Invasion endgültig zurückschlagen sollte. Schließlich wird der Sturm der unzähligen jungen Männer durch die engen Stacheldrahtverhaue über das Niemandsland gezeigt, umgeben von Explosionseinschlägen und Granatsplittern, sowie die Folgen des ersten Schlachttages: Tausendfacher Tod, tausendfache Verletzungen und allgemeine Desillusionierung.

Die perfekt organisierte und orchestrierte Offensive konnte nicht den erwarteten Erfolg bringen. Tatsächlich ist die Schlacht an der Somme die verlustreichste Schlacht in der Geschichte Großbritanniens.

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Einmal neue Sehgewohnheiten, bitte

Das Leporello besticht zunächst durch Saccos wie immer sehr dynamische und lebendige Zeichnungen. Saccos Werk enthält Dutzende Mikro-Narrative: In kleinsten Details erzählt der Zeichner Geschichten von einfachen Soldaten, von Offizieren, von Feldküchen und Lazaretten.

Das Medium “Leporello” hat mich jedoch verwundert. Ob es sich bei dem Leporello nun um ein Comic handelt oder nicht, sei dahingestellt – es macht keinen Unterschied. Die natürlichen Sehgewohnheiten werden hier jedenfalls auf die Probe gestellt. Wenngleich Sacco im chronologischen Verlauf durch die Perspektivwahl eine Kameraführung nutzt, die bei sorgfältiger Betrachtung aus nachvollziehbaren Zooms und Schwenks besteht, schwebt der Betrachter des Panoramas doch permanent gleichsam im Niemandsland, wie die Soldaten. Es gibt bei einem Panoramabild ohne Panels keine Fixpunkte: Der Comic-Grundsatz der Einheit von Zeit und Raum gilt hier nur sehr bedingt.

Hilfestellung gibt da das wunderbare Begleitheft, das zudem mit einem historischen Essay in den Kontext der Schlacht einführt und ebenfalls deren Verlauf erklärt. Tafel für Tafel des Leporellos wird im Begleitheft nachgezeichnet, mit erläuternden Bezugnahmen auf einzelne Details. Das ist eine große Hilfe, denn häufig verlieren sich die Details der Schlacht schlicht und ergreifend im Trubel derselben.

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Das ist von Sacco sicherlich so gewollt: Eine Schlacht ist nun einmal unübersichtlich, der Einzelne verloren. Aber ob der Leser sich darauf einlassen mag, die ohne Panelstruktur nacherzählte Schlacht, gleichsam ohne rhythmische Lese-Anker, in ihren Details nachzuvollziehen, sei dahingestellt. Ich jedenfalls war noch nie ein Freund von Such- oder Wimmelbildern.

Fazit

Dennoch gehört “Die Schlacht an der Somme” nicht nur in die Regale von dezidierten Sacco-Freunden, sondern bietet sich auch für jeden an, den das Medium Comic im Vergleich zu dessen Grenzgebieten interessiert. Denn wer den Teppich von Bayeux oder die Trajanssäule zu Vorläufern des Comics zählt, der wird auch Saccos Werk als Comic einstufen. Dies mag man auch anders sehen.

Interessant, inhaltlich wie medial, ist das allemal. Sacco, der Innovator, verdient Respekt für seine Rechercheleistung und den Mut, dem klassischen Comicfan ein Leporello nahegebracht zu haben. Anderen Sehgewohnheiten zum Trotz.

Neuzugänge im Mai

Jeden Monat erfreut sich die heimische Bibliothek am Nachwuchs: Mal mehr, mal weniger viele Bücher kommen hinzu, ebenso ist die Qualität der Ausgaben und die inhaltliche Bedeutung naturgemäß unterschiedlich.

Im Mai sind jedoch einige Prachtstücke dabei, die beim Lesen viel Freude bereitet haben und die bibliophile Vorfreude anheizen. Endlich bin ich dazu gekommen, die Liste zu aktualisieren.

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Mehr dazu hier…

Alex Quick: 99 Gratisideen für ein besseres Leben

Im Frühjahr 2014 ist der Atlantik-Verlag in See gestochen. Das im maritimen Setting gehaltene Imprint von Hoffman und Campe schaffte es sogleich, die Herzen vieler Buchblogger mit einem kleinen Kennenlernpaket zu erfreuen:

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Die Jungfernfahrt eines neuen Verlags (belassen wir es mal bei der Illusion, es handele sich um einen eigenen Verlag) zu beobachten, ist spannend. Das Wichtigste dabei ist natürlich das Programm, mit dem der Neuling der Buchbranche in den Kampf zieht. Also schnappte ich mir sogleich den Atlantik-Katalog, denn mir war schnell klar, dass ich zum Start ein Buch besprechen wollte.

Meine Wahl fiel auf Alex Quicks “99 Gratisideen für ein besseres Leben. Vorweg: Ich gehöre nicht, wie viele andere, zu den Ratgeber-Hassern. Es gibt unter der sogenannten Ratgeberliteratur viel Schund, viel seichte oder weniger seichte Küchenpsychologie á la “Wenn Sie unsere einzigartige Denkmethode konsequent einhalten, wird sich Ihr Leben schlagartig komplett verändern”. Es gibt aber auch eine große Zahl an seriösen Sachbüchern, die für bestimmte Themen sensibilisieren und das Leben bereichern. Der Nachteil dieser Bücher ist häufig die schwere Lesbarkeit oder die gähnende Langeweile, die mit der Nacherzählung der 27. psychologischen Studie einhergeht.

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Quicks Werk gehört zu keiner der beiden Kategorien. Schlicht und einfach zählt Quick 99 Möglichkeiten auf, das Leben zu genießen. Dabei wählt er – teils mehr, teils weniger konsequent – vor allem Tätigkeiten, die sofort von jedermann umgesetzt werden können und dazu nichts kosten. Beispiele: “Schauen Sie nach den Sternen!” oder “Schreiben Sie einen Brief an Ihr künftiges Ich!” Das mag trivial klingen. Aber die Wahrheit ist, dass die einfachen, die schönen, die sinnstiftenden Dinge im Leben häufig trivial sind.

Quick verbindet jeden Vorschlag zur simplen Lebensqualitätssteigerung mit einem kurzen erklärenden Text. Dabei werden die Vorschläge immer komplexer und psychologisch durchdachter: Während der erste Vorschlag auf das Sterne-Gucken zielt, empfiehlt Quick später, die Exzentriker des eigenen Wohnviertels zu unterstützen oder Unvollkommenheit und Vergänglichkeit als Ausdruck von Schönheit zu betrachten. Quick geht damit auf leichtfüßige Art ans Eingemachte. Er schafft es, Inhalte und Weisheiten fernöstlicher Denkschulen (“Akzeptieren Sie die ganze Katastrophe”) mit philosophischen Ideen (“Leben Sie die Abgeschiedenheit”) zu verbinden. Dabei erhebt Quick niemals den Zeigefinger, bleibt im sprachlichen Ton immer freundlich-zurückhaltend anstatt oberlehrerhaft. Im Ergebnis stört dann auch überhaupt nicht, dass nicht alle Vorschläge völlig gratis sind. Lohnen werden sie sich allemal.

Meine Lieblingsideen?
”Führen Sie ein Tagebuch – mit nur einem Satz pro Tag!”
”Zeigen Sie aufrichtige Dankbarkeit!”
”Halten Sie die Augen offen, und machen Sie mit!”

Quick erinnert an das, was häufig in Vergessenheit gerät. Das kleine Büchlein liest man mit einem Lächeln an einem Abend durch. Garantiert mit Gewinn: Quicks “99 Ideen” sind ein Kleinod der Lebensfreude.