#LawAndLit: Grenzziehung zwischen Schuld und Unschuld

Friedrich Dürrenmatt – “Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte”
1955/1956

“Unsere Art, Gericht zu halten, scheint Ihnen fremd und allzu munter, sehe ich. Doch, Wertgeschätzter, wir vier an diesem Tisch sind pensioniert und haben uns vom unnötigen Wust der Formeln, Protokolle, Schreibereien, Gesetze und was sonst noch für Kram unsere Gerichtssäle belastet, befreit. Wir richten ohne Rücksicht auf die lumpigen Gesetzbücher und Paragraphen.”

Ein Mann mittleren Alters, geschäftlich mit einem teuren Sportwagen irgendwo im ländlichen Raum unterwegs, hat eine Panne und strandet am Rande eines typischen kleinen Dorfes. Er nimmt sein Schicksal hin, stellt den Wagen ab und hofft, “irgendwo wenigstens ein Mädchen aufzutreiben.” Das jedenfalls misslingt.

Was folgt, ist nach Marcel Reich-Ranicki “ein Meisterwerk sondergleichen”: Dürrenmatts “Panne” nimmt Fahrt auf, sobald der Protagonist seine Fahrt beendet und eine Unterkunft sucht. Er standet zufällig in einer herrschaftlichen Villa, bewohnt von einem greisen Kauz, der jedoch blitzgescheit zu sein scheint. Der Protagonist, Alfredo Traps mit Namen, wird von dem kauzigen Alten zum Abendessen eingeladen. Mehr noch, dieses Abendessen werde ein Spiel beinhalten: Einige alte, pensionierte Juristen – er, der Villenbesitzer vormals Richter, sonst noch ein ehemaliger Staatsanwalt und ein Verteidiger – spielen Abend für Abend große Prozesse der Weltgeschichte nach und richten gelegentlich auch schon mal über Fremde, die sich wie Traps verirrt haben und Unterkunft suchten. En passant stellt sich heraus, dass der Vierte im Bunde ein ehemaliger Henker ist. Aber selbstverständlich laufe das abendliche Geplänkel der alten Herren im Spaße ab, ja, es werde ein richtiggehend kultivierter, amüsanter Herrenabend.

pannecover

So die Ausgangslage, die Dürrenmatt tatsächlich, auch hier muss ich Herrn Reich-Ranicki Recht geben, meisterhaft zeichnet. Mit wenigen Worten – der gesamte Text der Panne hat nur ca. 60 Seiten – entwirft er eine soziale Situation, in der der Protagonist nicht merkt, wie er im Rahmen eines mehr oder weniger kultivierten Abendessens in eine Falle tappt, die er sich zu allem Überfluss auch noch selbst gestellt hat.

Im Laufe des Abends, der über diverse Gänge, Desserts, unzählige Weine bis zu Cognac und Zigarre reicht, beginnt der Staatsanwalt damit, den armen Herrn Traps auszuhorchen und schließlich anzuklagen. Nach und nach verstrickt sich der Gestrandete, unter dem scharfen Protest seines Verteidigers, in die folgende, wahre Geschichte: Er, Vertreter, schlief mit der Frau seines Chefs, dem Chefvertreter, Gygax mit Namen. Wohl wissend, dass dieser besagte Chef, dessen Posten Traps unbedingt erlangen wollte, ein sehr schwaches Herz und bereits einen Herzinfarkt hinter sich hat. Nach vollzogenem Ehebruch berichtet Traps die ganze Geschichte auch noch, zu allem Überfluss, einem Kollegen, von dem er weiß, dass dieser in Windeseile zu Gygax laufen und alles erzählen wird. Es geschieht: Gygax stirbt, als er von dem Schäferstündchen seiner Frau erfährt, an einem neuerlichen Infarkt.

Die Anklage ist klar: Mord.

Zu dem weiteren Verlauf des Abends, zu Urteil, Rolle des Henkers und den nachfolgenden Geschehnissen sei hier nichts verraten. “Die Panne” ist eine wunderbare, spannende Lektüre für einen Abend, bei dem man sich fast so pudelwohl fühlt, wie Traps. Denn der grandiose Kniff Dürrenmatts ist: Traps spielt mit, ohne etwas zu hinterfragen, er genießt den Abend, ja der Abend sei der schönste seines Lebens, sagt er, schon reichlich betrunken, und er widerspricht sogar der Gegenrede seines Verteidigers. Diesen Mord, dieses perfekte Verbrechen hat er, Alfredo Traps, gerne begangen.

Nun ist die unweigerlich zu stellende Frage des modernen Juristen: Liegt überhaupt ein Verbrechen vor? Hat Traps in der Tat einen Mord begangen?

Rein technisch gesehen muss man Traps freisprechen. Er wurde wohl durchaus ursächlich für den Tod des Gygax, und er nahm diesen auch wohl billigend in Kauf, bezweckte ihn sogar – für die Strafbarkeit sind Kausalität und Vorsatz zwei grundlegend wichtige Merkmale, ohne die ein Mord oder Totschlag nicht gegeben sein können. Auch eine fahrlässige Tötung kommt in Betracht: Objektiv konnte eine neutrale Person in der Situation des Traps – also konkret beim Geschlechtsverkehr mit dem Fräulein Gygax – erkennen, dass dieses Vorgehen zum Tode des Gygax führen könnte.

Dennoch wird jedes deutsche Gericht den Herrn Traps freisprechen, es wird wohl nicht einmal zur Anklage durch den Staatsanwalt kommen. Warum? Hat Traps den Gygax nicht kaltblütig gekillt, indem er darüber hinaus auch noch dessen Frau auf dem Sofa in der Lobby von Gygaxens Haus beschlief? Kann eine Gesellschaft diese Zusammenhänge, bei denen böser Wille und Verursachung vorliegen, ignorieren – oder muss die Justiz hier einschreiten?

Im Buch heißt es dazu:

Was beim Bürger, beim Durchschnittsmenschen in Erscheinung trete, bei einem Unfall, oder als bloße Notwendigkeit der Natur, als Krankheit, als Verstopfung eines Blutgefäßes durch einen Embolus, als ein malignes Gewächs, trete hier als notwendiges, moralisches Resultat auf, erst hier vollende sich das Leben vollständig im Sinne eines Kunstwerkes, werde die menschliche Tragödie sichtbar.”

Traps würde hier und heute freigesprochen. Und genau dies ist auch richtig so, alles andere wäre fatal. Denn: Der Tod des Gygax ist dem Traps nicht zurechenbar. Er hat eine Ursache gesetzt, und er wollte den Tod. Aber die Verursachungskette ist zu lang – Traps setzte eben nur eine Ursache, aber nicht die Ursache – die Todesursache des Gygax war der Herzinfarkt, der auf arteriellen Problemen basierte. Es muss einen Filter geben, der Recht von Unrecht in der Kette der Verursachungen trennt. Sonst wäre auch die Mutter des Traps zu belangen, hätte auch sie Gygaxens Tod gewollt oder erkennen können, da sie den Traps immerhin geboren hat. Das ist das Standardbeispiel. Juristen nennen diesen notwendigen Filter, diese Grenzziehung, die in solchen Fällen Schuld von Unschuld, Recht von Unrecht trennt, objektive Zurechnung. Objektiv zurechenbar ist demnach jede Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr, die sich in einem tatbestandsmäßigen Erfolg – also hier dem Tod – realisiert. Heute wäre nicht einmal mehr der vollzogene Ehebruch rechtlich missbilligt. Er wäre schlichtweg unerheblich. 1955, als die Erzählung entstand, war dies noch völlig anders. Ehebruch wurde bis 1969 in Deutschland mit Strafe bedroht. Dennoch wäre auch zu Dürrenmatts Zeiten keine Verurteilung erfolgt, denn die Realisierung der “Gefahr” – also die Folge des Beischlafs – war alles mögliche, aber nicht der Infarkt, der erst Tage oder Wochen später erfolgte. Der Infarkt ist die Realisierung derjenigen Gefahr, die durch das schwache Herz entsteht.

Was sich da hinter dem Begriff der objektiven Zurechnung verbirgt, wo genau die Grenze zu ziehen ist, steht konkret in keinem Gesetz, auch und schon gar nicht im Strafgesetzbuch. Das ist in jedem Einzelfall unterschiedlich zu bewerten.

Genau wie die Gerechtigkeit selbst: Uneingeschränkt feststehende Parameter gibt es nicht – und eine andere Moral, eine andere Gesellschaft könnte den Traps wegen seines Verhaltens durchaus belangen.

Im deutschen Strafrecht ziehen wir die Grenze früher. Sonst müsste ein jeder permanent auf der Hut sein, ob er nicht durch sein Tun jemanden über sieben Ecken verletzt. Dem Gesinnungsstrafrecht wäre damit Tür und Tor geöffnet.

Und damit hat man hierzulange genug schlechte Erfahrungen gemacht.

Spontanlyrik: “Die gestundete Zeit”

Lyrik lese ich selten, fast immer ungeplant. Gelegentlich stolpere ich dennoch über das ein oder andere Gedicht, über spontane lyrische Perlen, die mich begeistern. So hat mich vor einiger Zeit das folgende Gedicht von Ingeborg Bachmann gefesselt. Ich will hier keine Interpretation abgeben und nichts ausanalysieren. Vor allem gefällt mir an dem Gedicht Bachmanns Stil, ihre Sprache, bei der sie keine Silbe zu viel nutzt. Lest selbst:

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, 1953

Nautik und Narzissmen – Comicadation “Der Seewolf”

“Das triumphierende und sadistische Lächeln Larsens entfachte in mir eine unbändige Wut. Im Zwischendeck mit einem Gewehr in der Hand stehend, hörte ich einen Ruf erschallen.”

Abenteuerromane, Western, Seefahrergeschichten – all das war noch nie meine Sache. Robinson Crusoe gefiel mir nicht besonders, Westernfilme schalte ich nach 5 Minuten ab und um Robert Louis Stevensons Schatzinsel schipperte ich geflissentlich drum herum. Freunde wurden nicht müde, mich dezent darauf hinzuweisen, dass mir große Romane der Weltliteratur und viele Stunden an Lesevergnügen entgingen, sollte ich diese Abneigung weiterhin pflegen. Also wählte ich einen Mittelweg und näherte mich dem Abenteuerroman durch das Medium Comic.

Jack London veröffentlichte seinen bekanntesten Roman “Der Seewolf” im Jahre 1904. Letztes Jahr erschien bei SPLITTER die Comicadation des Stoffes durch den französischen Zeichner und Szenaristen Riff Reb’s (ja, der Apostroph muss dahin, warum, erschließt sich mir auch nicht). Wie gewohnt in der hohen SLITTER-Qualität gehalten, fallen bei diesem Comic als Erstes der feste Bucheinband und das Hochglanzpapier auf. Direkt nach dem Start der Lektüre wird jedoch klar, dass Zeichnung und Geschichte weit über eine schöne Fassade hinausgehen.

seewolf

Humphrey Van Weyden, seines Zeichens schöngeistig-intellektueller Literaturkritiker, hauptsächlich jedoch von Beruf Sohn, erleidet bei einer Passage in der Nähe von San Francisco Schiffbruch und wird von dem Robbenschoner “Ghost” aufgenommen. Dort herrscht das diktatorische Regiment des Kapitäns Wolf Larsen, der aufgrund seiner hohen Intelligenz und vor allem aufgrund seiner fast schon unnatürlichen Körperkraft und Ausdauer die Mannschaft in permanente Demütigungen hüllt, wobei er jede sich regende Neigung zur Meuterei im Keim zu ersticken weiß.

Für ein Szenario wie dieses nicht geschaffen, bleibt Van Weyden, von der Schiffsbesatzung schikaniert oder bestenfalls ignoriert, nichts anderes als die Resignation. Bis er schließlich entdeckt, dass Wolf Larsen neben dem wölfischen auch noch ein humanes Element in sich trägt: Das Monster von Kapitän liebt Bücher, Mathematik und philosophische Diskurse. Van Weyden, der idealistische Humanist, schafft es allmählich, den überzeugten Nihilisten Larsen ein Stück weit für sich zu gewinnen. Dann, einige Gewaltexzesse des Kapitäns und einige philosophische Gespräche zwischen Kapitän und Van Weyden später, zieht der Sturm auf, und das eigentliche Drama beginnt.

Ein Comic zu lesen, das auf einer literarischen Vorlage beruht, die ich nicht gelesen habe, ist eine ganz neue Erfahrung: Beim Lesen habe ich permanent gedacht: “Wie hat London das wohl geschrieben? Wo hat Riff Reb’s hier gekürzt?” Auch diese Reihenfolge des Lesens von Adaption und Vorlage hat jedenfalls ihren Reiz. Der Nachteil ist freilich, dass ich das Comic nun isoliert bewerten muss. Und diese Bewertung fällt positiv aus: Riff Reb’s Adaption (ha! Wobei… dieser Text ist auf deutsch, auch so passt dieser Apostroph nicht ins Bild) gibt den Darstellungen des brutalen Lebens an Bord ebenso Raum wie der Seefahrt an sich und wie den philosophischen Gesprächen über Werte und Nichtwerte, über Sinn und Unsinn von Freiheit, Angst und Anpassung, die Larsen und Van Weyden miteinander führen. In welchem Verhältnis diese Elemente allerdings bei London stehen, vermag ich nicht zu sagen. “Der Seewolf” wird häufig als philosophische Geschichte apostrophiert (!), sodass demzufolge der diametral gegensätzliche Gedankenaustausch  von Schöngeist und Seemonster wohl im Ergebnis ein wenig zu kurz kommt.

seewolfpanel

Darüber verhelfen jedoch die wunderbaren Panels hinweg: “Der Seewolf” ist fantastisch gezeichnet, rein vom Zeichenstil her handelt es sich um ein Musterbeispiel der Gattung Comic. Ein Manko jedoch: Fast immer lehne ich Schwarzweißzeichnungen ab, hier – in diesem kolorierten Werk – hätten sie jedoch ausnahmsweise anstelle der Farbgebung gut getan. Denn: Reb’s taucht jedes Kapitel seines Werks in eine andere “Grundfarbe”, von Meeresblau und Sepiatönen über ein galliges Grün bis hin zu einem ausgewaschenen Rosa. Dieser Effekt zieht nicht. Entweder eine normale, differenzierte Koloration oder gar keine – diese bewusste, kapitelweise “Farbeintönigkeit” der Kapitel spiegelt sich in der durchaus gut erzählten Geschichte inhaltlich nicht wieder (wobei das rosa Kapitel ausgerechnet das ist, in dem die einzige Frau der Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, aber das ist wohl eher Zufall…hoffe ich).

“Der Seewolf” ist nun bereits die zweite Adaption, die ich aus der SPLITTER-Reihe “Books” gelesen habe (nach der meiner Meinung nach noch gelungeneren Umsetzung von Dostojewskis Spieler). Auch dieses Werk wusste definitiv zu gefallen…

…und hat sicherlich zur wichtigen Erkenntnis beigetragen: Abenteuergeschichten sind besser als ihr Ruf.