#LawAndLit: Die Qual der Wahl

Da startet man ein Projekt, kriegt auf Twitter eine Menge Feedback, und dann? Dann steht man plötzlich da mit seiner Kunst, der Vorhang zu, und alle Fragen offen.

Was zur Hölle lese ich denn jetzt für #LawAndLit?

Schauen wir uns doch nochmal die bisherige (nicht abschließende) Liste an:

1. William Shakespeare – Der Kaufmann von Venedig – Recht als Rache?
2. Gottholt Ephraim Lessing – Emilia Galotti – Resignation des Rechts vor der Macht?
3. Heinrich von Kleist – Michael Kohlhaas – Rebellion des Rechts gegen die Macht?
4. Georg Büchner – Dantons Tod – Recht durch Gewalt?
5. Conrad Ferdinand Meyer – Die Richterin – Recht sprechen ohne Recht zu tun?
6. Herman Melville – Billy Budd. Sailor – Rechtsgehorsam oder Rechtsmanipulation?
7. Franz Kafka – Der Prozeß/Vor dem Gesetz – Recht als Illusion
8. Susan Glaspell – A Jury of Her Peers – Wer soll des anderen Richter sein?
9. Katherine Anne Porter – Noon Wine – Öffentliche oder private Gerechtigkeit?
10. Albert Camus – Der Fremde – Entfremdetes Leben, entfremdetes Recht?
11. Berthold Brecht – Der kaukasische Kreidekreis – Wer findet wie die Gerechtigkeit?
12. Friedrich Dürrenmatt – Die Panne – Recht als Farce?
13. Friedrich Dürrenmatt – Der Besuch der alten Dame – Käuflichkeit des Rechts
14. Albert Camus – Die Gerechten – Recht durch Revolution
15. Friedrich Schiller – Die Räuber – Das Verhältnis von Freiheit und Gesetz
16. Heinrich Böll – Die verlorene Ehre der Katharina Blum – Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann
17. Gottfried Keller – Die drei gerechten Kammmacher – Recht und Rivalität
18. Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne Recht im Ausnahmezustand
19. Fjodor Dostojewski – Verbrechen und Strafe – Eigenes und fremdes Recht
20. Bernhard Schlink – Der Vorleser – Die Verarbeitung von Unrecht

Phew, teilweise ganz schön starker Tobak. Vom 500-Seiten Wälzer (Schuld und Süh…äh, Verbrechen und Strafe) bis hin zum Onepager (Vor dem Gesetz) ist wirklich alles dabei. Zwar schlägt das Herz eines jeden literaturaffinen Juristen beim Anblick dieser Liste höher, doch gleichzeitig stellt sich auch das Auswahlparadox ein: Je größer die Auswahl, desto schlechter kann man sich entscheiden. Da hilft nur negatives Ausschlussverfahren…

Irgendwann werde ich meinen Enkeln sagen können: “Mein liebes Kind, damals, zu meiner Zeit, da hieß ‘Verbrechen und Strafe’ noch ‘Schuld und Sühne’”. Letzteres Werk habe ich vor einigen Jahren mit Freude gelesen, wenngleich ich ewig dafür gebraucht habe. Da ich etwas Neues lesen will, fällt das schonmal raus. Das Gleiche gilt für GotthelfsSpinne” und für SchlinksVorleser”: Gelesen ist gelesen, und damit fallen die Titel raus.

Was gibt es noch auf der Liste? Einige Bücher, die ich nicht nur unverschämter Weise bisher nicht gelesen habe, sondern die mir auch bis vor Kurzem überhaupt nichts sagen: Dazu gehören MelvillesBilly Budd. Sailor” genauso wie GlaspellsA Jure of Her Peers”, KellersKammmacher” oder Katherine Anne PortersNoon Wine”. Never heard of them. Und ich gebe zu: Da tue ich mich schwer. Völlig unbekannter Bücher kann ich schlecht spontan lesen, ich brauche meist noch einen weiteren, externen Input, sei es eine Empfehlung eines Freunds oder eine Rezension irgendwo in den Weiten des WWW. Die genannten Werke kriegen heute leider kein Foto von mir und fliegen raus.

Damit bleiben noch BöllsKatharina Blum”, SchillersRäuber”, CamusDie Gerechten”, die beiden Dürrenmatts (der gute Mann ist gleich doppelt vertreten, eine Ehre, die sonst nur Camus inne hat), BrechtsKreidekreis”, der andere Camus, KafkasProzess” bzw. “Vor dem Gesetz”, CFMsRichterin”, LessingsEmilia”, good ole’ Big Willys “Kaufmann”, KleistsKohlhaas” und BüchnersDanton” über.

Kafka fällt raus, da ich mich in diesem Jahr schon mehrfach mit dem guten alten Franz befasst habe. Die “Räuber”, die “Gerechten” und der “Kaufmann” kommen auch nicht in Betracht, da ich diese Werke schon mehrfach im Theater sehen durfte und da es somit nicht so viel Neues zu entdecken gibt wie bei einem mir noch unbekannten Text.

Bölls “Katharina” fällt raus, weil es von Böll ist. Ich mag ihn nicht, vielleicht zu Unrecht, aber noch wage ich mich nach der Enttäuschung von “Ansichten eines Clowns” an den Herrn Böll nicht ran. Irgendwann vielleicht, später.

Dürrenmatt finde ich Klasse, aber vom “Besuch der alten Dame” habe ich bisher so viel gehört, dass ich es schon bald gar nicht mehr lesen brauche.

Michael Kohlhaas liest Tilman von 54books schon. Nachher kommt der noch auf die Idee, ich mache es ihm nach. Kommt gar nicht in Frage.

Brecht ist stark und einer meiner ewigen Favoriten, aber – nein. Es fühlt sich nicht richtig an, ich möchte derzeit kein Drama lesen. Vor einigen Monaten habe ich “In der Sache J. Robert Oppenheimer” gelesen und das hat, obwohl es mir gefiel, mein Bedürfnis nach Dramenlektüre vorerst befriedigt. Damit fallen auch Brechts “Kreidekreis”, Lessings “Emilia” und Büchners “Danton” durchs Raster. Und das, obwohl Büchnerjahr ist. Vergib mir, Georg.

Was bleibt?
”Die Richterin” von Conrad Ferdinand Meyer ist mir momentan zu altbacken. Ich weiß, das ist keine Kategorie – aber momentan steht mir der Sinn eher nach etwas Modernerem.

Es bleiben Camus’ “Der Fremde” und Dürrenmatts “Die Panne”. Das ist nun wirklich eine schwere Entscheidung.
Aber: Ich werde Dürrenmatts “Die Panne” lesen, da ich seit ewigen Zeiten nichts mehr von Dürrenmatt gelesen habe und mich die “Physiker” und “Der Richter und sein Henker” wirklich begeistert haben.

diepanneduerrenmatt
Außerdem ist “Die Panne” nach Marcel Reich-Ranicki eine der besten deutschen Erzählungen nach ‘45. Der gute Mann wusste, wovon er spricht. Daher muss Camus weichen.

Ich freue mich auf ein juristisch-literarisches Lesevergnügen!

Neues Projekt: #LawAndLit

Gerade als ihr dachtet, mein gemeinsam mit 54books betriebener Buchguerilla-Blog wäre eingeschlafen, die Buchguerilleros hätten ihre Kunst an den Nagel gehangen, die Waffen gestreckt und würden in ihrem Bücherdschungel faul auf der Strohmatte liegen, passiert es: Ein neues Buchguerilla-Projekt!

Es sei nur so viel gesagt: Es geht um Recht und Literatur. Das Ganze wird bei Buchguerilla zusammenfließen, aber der Sinn ist eine Vernetzung unter allen teilnehmenden Blogs. Meine Texte werden hier erscheinen. Die Eckdaten und alles Weitere zum Projekt gibt es hier: www.buchguerilla.de/lawandlit

Wer schreibt, der bleibt – wir freuen uns über Mitstreiter, die sich dem Thema Law and Literature nähern wollen!

Reading Ulysses #2 – Mein Ersteindruck

Was zur Hölle ist das denn bloß für ein Text? Wer soll das bitte lesen?
Allein der Anfang:

“Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei. Innehaltend spähte er die dunkle Wendeltreppe hinunter und kommandierte grob: – Komm rauf, Kinch! Komm rauf, du feiger Jesuit!”
aus Kapitel 1 (Telemachos)

Gute 300 Seiten später wage ich mich an eine kleine Rückschau, wobei es sich natürlich noch nicht um eine Rezension handeln kann. Vielmehr soll es um die Wahrheit gehen und um nichts als die Wahrheit, um die ungefilterten Leseeindrücke beim Beackern eines der angeblich “sperrigsten” Klassiker überhaupt.

ulysseskommentiert

Nachdem ich, ohne jede Orientierungshilfe, gleichsam im Blindflug, die Ulysses-Ausgabe aus der Suhrkamp-Basisbibliothek gelesen und nach wenigen Seiten entnervt wieder weggelegt habe, habe ich mir die einzige auf dem deutschen Markt erhältliche kommentierte Fassung zugelegt: Ebenfalls Suhrkamp, in Leinen gebunden, nach der Wollschläger-Übersetzung von 1975, von diversen Experten kommentiert. Erste Auflage von 2004 (und auch bisher die einzige Auflage, aber gut, wer liest sowas auch schon…). In dem Ding tummeln sich nicht nur haufenweise Kommentare, die tatsächlich hilfreich sein können, nein, hinten ist auch das Gilbert-Kapitelschema drin (das die Lektüre allerdings eher erschwert als zu vereinfachen). Zur Erklärung: Im Ulysses geht es um einen einzigen ganz normalen Tag im Leben der beiden Dubliner Leopold Bloom und Stephen Dedalus, wobei die Erzählung dieses Tages allerdings ihrem Aufbau und stellenweise ihrer Handlung nach Homers Odyssee nachempfunden ist. Jede der 18 Kapitelüberschriften entspricht einem Abschnitt der Odyssee. Allerdings hat Joyce, der alte Fuchs, die Überschriften nach Beendigung seines Werks wieder entfernt. Durch das gilbert’sche Kapitelschema wird wieder etwas Ordnung in die Sache gebracht. Ohnehin scheint der gute Joyce Gefallen daran gefunden zu haben, die literarische Nachwelt nicht nur um große Literatur zu bereichern, sondern sie auch zu trietzen:

“Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe, und nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit.” – James Joyce

Tja, ziemlich überheblicher Typ. Aber das mit der Unsterblichkeit dürfte er wohl geschafft haben.

Mit dem neuen Werk, der kommentierten Fassung, ging es dann deutlich besser voran. Allerdings waren die ersten drei Kapitel – die Telemachie – in der Tat recht zäh: Wir erleben mit Stephen Dedalus, wie dessen Tag beginnt, was seine WG-Genossen so treiben, wir gehen mit ihm spazieren, sinnen nach über Theologie, Geschichte und Shakespeare, lauschen seinem inneren Monolog (die Technik des stream of consciousness zieht sich – mal mehr, mal weniger stark – durch das gesamte Wer). Das war sehr gewöhnungsbedürftig. Und, das es hier ja um die Wahrheit gehen soll: Zwischendurch habe ich mir gedacht, verdammt, das ganze Teil, die guten 1000 Seiten, die packst du nie.

Ein Beispiel gefällig?

“Lochlan-Galeeren liefen hier am Strand, auf Beutesuche, tief strichen ihre blutigen Bugschnäbel über eine Brandung aus geschmolzenem Zinn. Danowikinger, Torques von Streitäxten glitzernd auf der Brust, als Malachi trug das Halsband von Gold. Eine Herde Turlehide-Wale strandete im heißen Mittag, Fontänen spritzend, hoppelnd im Flachwasser. Dann aus der verhungernden Flechtwerkstatt eine Horde kurzbewamster Zwerge, mein Volk, mit Schindermessern, rennend, stürmend, hackend in grüntraniges Walfleisch. Hungersnot, Pest und Gemetzel.”
aus Kapitel 3 (Proteus)

Phew…
Dann Auftritt Bloom. Schlagartig wurde es besser.
Der gute Herr Bloom kauft sich zum Frühstück erstmal eine leckere Niere – hallo, wie geil ist das denn? Ganz starke Sache, ich schöpfte Hoffnung. Hoffnung, die bislang anhält, die sich sogar teilweise bestätigt hat: Das ganze Werk wird lesbarer, man kommt tatsächlich rein in den Bewusstseinsstrom und nimmt Anteil an den Personen. Der Text scheint mir, nun, in Kapitel 9, in dem es um das Rumgehure von Anne Hathaway, ihres Zeichens Ehefrau von Shakespeare (nein, nicht Catwoman!), geht, immer besser zu werden. Joyce erweckt Dublin zum Leben. Wir sehen die Stadt direkt aus den Augen von Bloom, wir befinden uns in dessen Kopf, zumindest die meiste Zeit. Alle Animositäten, alle kleinen Eigenheiten der Stadt und der Bewohner, die Bloom trifft, werden nicht nur gezeigt, sondern von Bloom sofort innerlich kommentiert (was dann sofort am Textrand nochmals kommentiert wird, oh my).

Dabei gilt: Ich lese nicht mehr jedes einzelne Wort mit dem Anspruch, es im Kontext zu verstehen. Das ist überhaupt nicht notwendig und nicht gewollt. Gerade in Kapitel 9, wo es fast nur um Shakespeare und dessen Werke und Kritiker geht, erschließt sich dem Normalleser natürlich nicht jede einzelne Verästelung der einzelnen Anspielungen und Bezüge. Da helfen auch die Kommentare am Rand nicht. Vielmehr ist es notwendig, mit diesem Text zu spielen, auch mal, vorsichtig und zurückhaltend natürlich, einen Absatz über irgendein Pferderennen von 1903 oder die Börsenkurse von 1899 nur zu überfliegen. So what. Joyce wollte nicht mal, dass man alles versteht.

Vor ein paar Jahren habe ich “Wie man ein Buch liest” von Adler und van Doren gelesen. Dabei handelt es sich um eine Art Anleitung zum Lesen, die einen befähigen soll, jedes Buch zu lesen. Wenn ich dabei eines gelernt habe, dann das: Jedes Buch ist ein Projekt. Man kann jedes Buch lesen, wenn man es nur richtig angeht. Adler und van Doren, die zu ihrer Zeit als Päpste des Lesens galten, betonen: Bei Prosawerken geht es vor allem um das Gefühl. Um, was Ulysses angeht, mit Andy Möller einen anderen großen Geist zu zitieren, sage ich dazu: Vom Feeling her hab ich ein gutes Gefühl.

Ich denke, es geht vor allem darum, Spaß mit dem Text zu haben, das Mark aus ihm heraus zu saugen und sich an den weniger bekömmlichen Teilen nicht zu verschlucken.
Es geht darum, fröhlich nach Dublin zu reisen, Bloom und Dedalus zu begleiten und dabei den Geruch einer verbrannten Frühstücksniere in der Nase zu haben.