Reading Ulysses #2 – Mein Ersteindruck

Was zur Hölle ist das denn bloß für ein Text? Wer soll das bitte lesen?
Allein der Anfang:

“Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei. Innehaltend spähte er die dunkle Wendeltreppe hinunter und kommandierte grob: – Komm rauf, Kinch! Komm rauf, du feiger Jesuit!”
aus Kapitel 1 (Telemachos)

Gute 300 Seiten später wage ich mich an eine kleine Rückschau, wobei es sich natürlich noch nicht um eine Rezension handeln kann. Vielmehr soll es um die Wahrheit gehen und um nichts als die Wahrheit, um die ungefilterten Leseeindrücke beim Beackern eines der angeblich “sperrigsten” Klassiker überhaupt.

ulysseskommentiert

Nachdem ich, ohne jede Orientierungshilfe, gleichsam im Blindflug, die Ulysses-Ausgabe aus der Suhrkamp-Basisbibliothek gelesen und nach wenigen Seiten entnervt wieder weggelegt habe, habe ich mir die einzige auf dem deutschen Markt erhältliche kommentierte Fassung zugelegt: Ebenfalls Suhrkamp, in Leinen gebunden, nach der Wollschläger-Übersetzung von 1975, von diversen Experten kommentiert. Erste Auflage von 2004 (und auch bisher die einzige Auflage, aber gut, wer liest sowas auch schon…). In dem Ding tummeln sich nicht nur haufenweise Kommentare, die tatsächlich hilfreich sein können, nein, hinten ist auch das Gilbert-Kapitelschema drin (das die Lektüre allerdings eher erschwert als zu vereinfachen). Zur Erklärung: Im Ulysses geht es um einen einzigen ganz normalen Tag im Leben der beiden Dubliner Leopold Bloom und Stephen Dedalus, wobei die Erzählung dieses Tages allerdings ihrem Aufbau und stellenweise ihrer Handlung nach Homers Odyssee nachempfunden ist. Jede der 18 Kapitelüberschriften entspricht einem Abschnitt der Odyssee. Allerdings hat Joyce, der alte Fuchs, die Überschriften nach Beendigung seines Werks wieder entfernt. Durch das gilbert’sche Kapitelschema wird wieder etwas Ordnung in die Sache gebracht. Ohnehin scheint der gute Joyce Gefallen daran gefunden zu haben, die literarische Nachwelt nicht nur um große Literatur zu bereichern, sondern sie auch zu trietzen:

“Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe, und nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit.” – James Joyce

Tja, ziemlich überheblicher Typ. Aber das mit der Unsterblichkeit dürfte er wohl geschafft haben.

Mit dem neuen Werk, der kommentierten Fassung, ging es dann deutlich besser voran. Allerdings waren die ersten drei Kapitel – die Telemachie – in der Tat recht zäh: Wir erleben mit Stephen Dedalus, wie dessen Tag beginnt, was seine WG-Genossen so treiben, wir gehen mit ihm spazieren, sinnen nach über Theologie, Geschichte und Shakespeare, lauschen seinem inneren Monolog (die Technik des stream of consciousness zieht sich – mal mehr, mal weniger stark – durch das gesamte Wer). Das war sehr gewöhnungsbedürftig. Und, das es hier ja um die Wahrheit gehen soll: Zwischendurch habe ich mir gedacht, verdammt, das ganze Teil, die guten 1000 Seiten, die packst du nie.

Ein Beispiel gefällig?

“Lochlan-Galeeren liefen hier am Strand, auf Beutesuche, tief strichen ihre blutigen Bugschnäbel über eine Brandung aus geschmolzenem Zinn. Danowikinger, Torques von Streitäxten glitzernd auf der Brust, als Malachi trug das Halsband von Gold. Eine Herde Turlehide-Wale strandete im heißen Mittag, Fontänen spritzend, hoppelnd im Flachwasser. Dann aus der verhungernden Flechtwerkstatt eine Horde kurzbewamster Zwerge, mein Volk, mit Schindermessern, rennend, stürmend, hackend in grüntraniges Walfleisch. Hungersnot, Pest und Gemetzel.”
aus Kapitel 3 (Proteus)

Phew…
Dann Auftritt Bloom. Schlagartig wurde es besser.
Der gute Herr Bloom kauft sich zum Frühstück erstmal eine leckere Niere – hallo, wie geil ist das denn? Ganz starke Sache, ich schöpfte Hoffnung. Hoffnung, die bislang anhält, die sich sogar teilweise bestätigt hat: Das ganze Werk wird lesbarer, man kommt tatsächlich rein in den Bewusstseinsstrom und nimmt Anteil an den Personen. Der Text scheint mir, nun, in Kapitel 9, in dem es um das Rumgehure von Anne Hathaway, ihres Zeichens Ehefrau von Shakespeare (nein, nicht Catwoman!), geht, immer besser zu werden. Joyce erweckt Dublin zum Leben. Wir sehen die Stadt direkt aus den Augen von Bloom, wir befinden uns in dessen Kopf, zumindest die meiste Zeit. Alle Animositäten, alle kleinen Eigenheiten der Stadt und der Bewohner, die Bloom trifft, werden nicht nur gezeigt, sondern von Bloom sofort innerlich kommentiert (was dann sofort am Textrand nochmals kommentiert wird, oh my).

Dabei gilt: Ich lese nicht mehr jedes einzelne Wort mit dem Anspruch, es im Kontext zu verstehen. Das ist überhaupt nicht notwendig und nicht gewollt. Gerade in Kapitel 9, wo es fast nur um Shakespeare und dessen Werke und Kritiker geht, erschließt sich dem Normalleser natürlich nicht jede einzelne Verästelung der einzelnen Anspielungen und Bezüge. Da helfen auch die Kommentare am Rand nicht. Vielmehr ist es notwendig, mit diesem Text zu spielen, auch mal, vorsichtig und zurückhaltend natürlich, einen Absatz über irgendein Pferderennen von 1903 oder die Börsenkurse von 1899 nur zu überfliegen. So what. Joyce wollte nicht mal, dass man alles versteht.

Vor ein paar Jahren habe ich “Wie man ein Buch liest” von Adler und van Doren gelesen. Dabei handelt es sich um eine Art Anleitung zum Lesen, die einen befähigen soll, jedes Buch zu lesen. Wenn ich dabei eines gelernt habe, dann das: Jedes Buch ist ein Projekt. Man kann jedes Buch lesen, wenn man es nur richtig angeht. Adler und van Doren, die zu ihrer Zeit als Päpste des Lesens galten, betonen: Bei Prosawerken geht es vor allem um das Gefühl. Um, was Ulysses angeht, mit Andy Möller einen anderen großen Geist zu zitieren, sage ich dazu: Vom Feeling her hab ich ein gutes Gefühl.

Ich denke, es geht vor allem darum, Spaß mit dem Text zu haben, das Mark aus ihm heraus zu saugen und sich an den weniger bekömmlichen Teilen nicht zu verschlucken.
Es geht darum, fröhlich nach Dublin zu reisen, Bloom und Dedalus zu begleiten und dabei den Geruch einer verbrannten Frühstücksniere in der Nase zu haben.