Spontanlyrik: “Die gestundete Zeit”

Lyrik lese ich selten, fast immer ungeplant. Gelegentlich stolpere ich dennoch über das ein oder andere Gedicht, über spontane lyrische Perlen, die mich begeistern. So hat mich vor einiger Zeit das folgende Gedicht von Ingeborg Bachmann gefesselt. Ich will hier keine Interpretation abgeben und nichts ausanalysieren. Vor allem gefällt mir an dem Gedicht Bachmanns Stil, ihre Sprache, bei der sie keine Silbe zu viel nutzt. Lest selbst:

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, 1953