Dein, mein – unser Buch?

Warum das Schreiben einsam bleiben muss

Ich bin ein großer Freund des “Social Reading”. Zunächst assoziiert man damit neumediale Buchcommunities á la GoodReads, LovelyBooks, WasLiestDu oder diesen neuen Streich von einem gewissen Herrn Lobo. Das mag den Eindruck erwecken, das soziale Lesen sei etwas Neues. Aber weit gefehlt: Social Reading gibt es bereits so lange, wie es Bücher gibt.

Im 19. Jahrhundert gehörte die gepflegte Konversation im Lesezirkel über Prosa und Poesie zum guten Ton nicht nur der höchsten gesellschaftlichen Schichten, sondern auch in weiten Teilen des Bürgertums. Scheinbar ist diese Freizeitbeschäftigung – was die gesellschaftliche Breite und die Zahl der sozial Lesenden – in den letzten gut hundert Jahren ein wenig eingeschlafen, um nun über das Netz eine Renaissance zu erleben. Doch nicht nur im Netz, sondern auch offline lässt sich hervorragend sprechen über Kurzgeschichten, Romane, Comics, Gedichte – kurz, alles, was das literarische Herz begehrt. Ich bin in keiner der oben genannten Lesecommunities aktiv. Da lobe ich mir meinen Comiclesekreis.

So weit, so wünschenswert – das gemeinsame Lesen lebt und weist eine Vielzahl an Erscheinungsformen auf. Was ich jedoch gestern erneut gelesen habe, ist etwas ganz Anderes – ich nenne es mal “Social Writing”. Und genau das sehe ich sehr kritisch.

schreiberei

Gestern bekam ich eine automatisierte eMail des Pressezentrums der Frankfurter Buchmesse mit einer Pressemitteilung zu “Frankfurt Storydrive”. Dort ging es unter anderem um neue Konzepte im Bereich Storytelling und Demokratisierung der Buchbranche. Zum Thema Social Writing heißt es:

Beispielhaft für die Buchbranche demonstrierten das der britische Verleger John Mitchinson und Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky aus Russland. Mit seiner in der Buchbranche bislang einzigartigen Publishing- und Finanzierungsplattform Unbound führt Mitchinson Schriftsteller und Leser bereits im Prozess des Schreibens zusammen. Leser können mittels finanziellen Beiträgen in verschiedenen Größenordnungen kreativen Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten nehmen. Am Ende steht die Wandlung der Nutzer von passiven Konsumenten zu Marketer, Co-Produzenten und Autoren. Das vor zwei Jahren gegründete Online-Portal begleitete bereits 80 Buchprojekte und hat 35.000 registrierte Nutzer.

Das ließ mich stutzen. “Kreativer Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten.” Was zum Henker bedeutet das?

Lässt ein Autor künftig seine Leserschaft über das Ende eines Romans abstimmen? Gibt es bald das große Mitspracherecht der Leser zur Frage, welche Figuren in einer Geschichte überleben dürfen und welche nicht? Welche Figuren sich ineinander verlieben, wer wen hasst, wer mit wem interagiert? Oder noch schlimmer: Lassen Verlage demnächst ihre Kunden über das Netz entscheiden, welche Art von Büchern die Verlagsautoren schreiben sollen?

Wo bitte bleibt da die Überraschung? Wo die Freude darüber, einen Autor entdeckt zu haben, wenn meine Stimme im Netz ihn mit geschaffen hat?

Und nun der Knaller: Es sind die “finanziellen Beiträge in verschiedenen Größenordnungen”, die den kreativen Einfluss bestimmen. Aha. Der Leser mit gut gefülltem Bankkonto, der den Protagonisten einer Geschichte abgrundtief hasst, überweist 5.000,00 € auf das Autoren- bzw. Verlagskonto und schwupps, der Protagonist wird entsorgt.

Das ist literarischer Auftragsmord.

Social Writing funktioniert im Wissenschaftsbetrieb, bei der gemeinschaftlichen Arbeit an Sachtexten. Aber auch nur da. Es mag Ausnahmen geben – aber:

Hätte Kafka, das Epizentrum der Einsamkeit, seine “Verwandlung” geschrieben, so wie sie ist – wenn er zuvor hunderte potentielle Leser befragt hätte? Hätte Goethe den Werther verfasst, blutjung, wenn er sich der Meinung der Masse gebeugt hätte? Hätte Thomas Mann die Buddenbrooks geschrieben, wenn er im damaligen Lübeck vorher eine Umfrage gestartet hätte?

Social Writing up my ass. Das Schreiben muss einsam bleiben.

Interview mit Arnon Grünberg

Willkommen zu einer kleinen Premiere: Dies ist das erste Interview des Blogs! Nach und nach werde ich nun das ein oder andere Interview von spannenden Personen aus der Bücherwelt veröffentlichen.

Ganz besonders freue ich mich, dass die neue Interviewreihe gleich mit einem bekannten Namen startet: Arnon Grünberg. Vor ein paar Tagen noch habe ich seine großartige Satire “Der jüdische Messias” besprochen (mit einigen Infos über Grünbergs Leben und Schaffen), heute folgt ein kleines Interview mit dem Autor hinter dem Werk.

grunberghead

Der “Messias” hat mich, unschwer zu erkennen, zuletzt enorm begeistert. Aus dieser Begeisterung heraus habe ich mir gedacht: Was soll’s, “Versuch macht kluch”, ich schreibe ihm einfach mal eine Mail mit der Interviewanfrage. Ich ging davon aus, nein, ich war mir sicher, dass keine Reaktion folgen würde (schließlich hat Stephen King den Brief, den ich ihm im Alter von 16 Jahren schrieb, auch nicht beantwortet…).

Herr Grünberg belehrte mich eines Besseren.

Der niederländische Schriftsteller stand mir Rede und Antwort und sprach dabei über die Kulturindustrie, Comics und das Tanzen aus der Reihe:

TuB: “Ist die augenzwinkernde Aussage Ihres Freundes Daniel Kehlmann, er habe Angst vor Ihnen, berechtigt?”
Grünberg:
“Das müssten Sie eigentlich Ihn fragen. Er hat, würde ich sagen, gemeint, dass er mich ziemlich sympathisch findet – jedenfalls hoffe ich das – und, dass meine Figuren oft weniger sympathisch sind. Man versucht immer zu verstehen, warum ein Schriftsteller so etwas Abgründiges schreiben kann; das heißt vor allem wenn es um Gewalt geht ist es anscheinend irgendwie schwierig zu verstehen, dass ein Schriftsteller so etwas schreiben kann und sich doch ziemlich ‘gutbürgerlich’ benimmt.”

TuB:
“Ihre Figuren sind häufig abgründig, gefühlskalt, gewaltaffin – jedenfalls maximal aus der Reihe tanzend. Wie ist dies mit dem ruhigen, stets freundlichen Autor Arnon Grünberg vereinbar – oder gilt gerade bei Ihren Werken der literaturwissenschaftliche Grundsatz: ‘Der Autor ist tot’?”
Grünberg:
“Vielleicht sollte man Literaturwissenschaft studiert haben, um diesen Satz wirklich zu verstehen. Übrigens liebe ich Barthes, auch wenn er oft für mich etwas Unverständliches hat. Aus der Reihe zu tanzen ist ja eigentlich das Einzige, das uns interessieren kann – es geht doch immer um die Ausnahme, oder? Aber in meinen Büchern geht es ja auch sehr oft um Figuren, die sich Mühe geben nicht aus der Reihe zu tanzen. Das find ich spannend: Das man trotzdem aus der Reihe tanzt.”

Tub:
„Warum erscheint Ihr großartiges Werk „Der jüdische Messias“ erst jetzt, neun Jahre nach dem Erscheinen im Original, in Deutschland? Galt der kontroverse Stoff hierzulande als schwer vermittelbar oder standen andere Gründe im Vordergrund?“
Grünberg:
“Das sollten Sie den Verlag fragen. Übrigens schätze ich den
Diogenes Verlag enorm, und vor allem auch den leider verstorbenen Verleger Daniel Keel, aber innerhalb des Verlags gab es Stimmen, die dieses Buch nicht machen wollten, oder noch nicht machen wollten. Aber nun ist das ja gelöst.”

TuB:
„Ich habe Ihren ‘Messias’ in einer in Leinen gebundenen Ausgabe genossen. Alles andere kann ich mir schwer vorstellen – wie ist Ihre Meinung zu eBooks und dem digitalen Wandel des Buchmarkts?“
Grünberg:
“Jeder Experte sagt: Das eBook kommt. Also lass es kommen. Ich selbe lese lieber richtige Bücher, ich mag es, das Buch anzufassen. Aber das heißt nicht, dass ich gegen eBooks bin. Wozu auch? Es gibt bessere und wichtigere Feinde.”

TuB:
”Mögen Sie Comics? Könnten Sie sich eine Comicadaption eines Ihrer Werke vorstellen?”
Grünberg:
”Doch. Tintin, heißt das so auf Deutsch? – war für mich unheimlich wichtig als Kind. Ich hab das verschlungen. Also eine Reportage von mir über eine Reise in 2010 von Istanbul nach Bagdad über Land ist auch als Comic erschienen.”

TuB:
„In einem Ihrer täglichen Blogposts schreiben Sie über die Holocausterziehung deutscher Schulkinder im Geschichtsunterricht, die auch mittels Comics erfolgt. Was halten Sie vor diesem Hintergrund von Werken wie „MAUS“ Ihres New Yorker Kollegen Art Spiegelman?“
Grünberg:
”Es ist nicht sehr originell, aber ich fand Maus großartig. Und ist Unterricht nicht ein andauerndes Experiment?”

TuB:
„Sie leben und arbeiten hauptsächlich in der Welthauptstadt New York. Wie muss sich der außenstehende Literaturfreund das Leben eines international erfolgreichen Autors in New York vorstellen?“
Grünberg:
”Ich stehe auf, ich schreibe. Schreiben ist ja auch Kulturindustrie, das heißt ohne Disziplin geht es nicht. Obwohl vielleicht nenne ich eine Art Sucht einfach Disziplin.”

TuB:
„Bei welchem New Yorker Buchladen kaufen Sie Ihren Lesestoff?“
Grünberg:
”Sie werden mich vielleicht verfluchen, aber ich kaufe viel bei Amazon. Es gibt dann noch eine Buchhandlung, die ich mag: 192 Books on 10th Avenue.”

TuB:
„Welche drei Bücher anderer Schriftsteller haben Ihnen zuletzt überhaupt nicht gefallen – haben Sie persönliche ‚Hassbücher‘?“
Grünberg:
”Ich habe keine Zeit mehr, Bücher zu lesen, die mir nicht gefallen.”

TuB:
„Nutzen Sie zum Schreiben irgendeine besondere Autorensoftware, um zu plotten und den Überblick zu behalten – oder verlassen Sie sich auf Ihr Gedächtnis und Ihre Intuition?“
Grünberg:
”Keine Software. Ich finde, dass ich intelligenter bin als Software.”

TuB:
„Sie sind nicht nur ein produktiver Erfolgsautor, sondern auch ein fleißiger Blogger. Welchen Tipp können Sie jungen, ambitionierten Autoren und Bloggern mit auf den Weg geben?“
Grünberg:
”Eitelkeit ist der Feind, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Kritik und das Schweigen der Welt sind sehr hilfreich. Jeder, der mitarbeitet in der Kulturindustrie ist auch irgendwie Fabrikarbeiter. Die Kulturindustrie ähnelt einer Fabrik, also überschätze die eigene Freiheit nicht.”

Herr Grünberg, herzlichen Dank für das Gespräch!