“Tage am Strand”: Never judge a book by its movie

Vor wenigen Wochen ist Doris Lessing gestorben. Leider flog diese große, alte Dame der Literatur lange Zeit vollständig unter meinem Radar. Dass es tatsächlich ein eBook sein sollte, mit dem ich mich dem Werk Lessings annähere, hätte ich nicht gedacht. Meine Erfahrungen mit der digitalen Leserei habe ich hier verarbeitet. Das Trauma lässt nach…  Hier soll es nun, unabhängig von der Nutzung absonderlicher neuer Techniken, inhaltlich um meinen Eindruck von Lessings “Tage am Strand” gehen. Da “Tage am Strand” aktuell im Kino läuft, bietet sich der Vergleich mit dem Film an.

Das Buch

“Tage am Strand” ist der deutsche Titel der Erzählung “The Grandmothers”, die 2004 erschien. Das eBook habe ich von Hoffmann und Campe bezogen, bei der die meisten Werke Lessings auf deutscher Sprache erschienen sind.

Die Geschichte handelt von zwei besten Freundinnen, Lillian und Rozeanne, deren Leben von der Schulzeit an parallel verläuft: Beide sind hübsch, beide sind in dem, was sie tun, erfolgreich, beide heiraten, beide bekommen einen Sohn, und all das geschieht jeweils fast gleichzeitig. Die Geschichte erzählt das Leben der beiden Protagonistinnen in einer kurzen Rückblende zu Beginn des Buches, legt den Fokus aber dann auf die eigentliche “unerhörte Begebenheit”: Nämlich darauf, dass die Frauen, als ihre Söhne gerade dabei sind, erwachsen zu werden und sich der Volljährigkeit nähern, eine Liebesbeziehung mit dem Sohn der jeweils anderen beginnen. Weitere Details dazu und zum Fortlauf der Geschichte werde ich nicht verraten, aber dass diese generationenübergreifende “Vierecks-Beziehung” krachend scheitert, dürfte klar sein. Alles andere wäre Kitsch, aber dazu unten mehr.

“Leichtfüßig” ist das Wort, das mir als erstes einfiel, als ich über den Stil Lessings nachdachte. Leichtfüßig ist die Geschichte geschrieben, heiter und dennoch stets ironisch-lakonisch. Der Text kennt keinen Kitsch: Zwar ist die Geschichte mit all den Parallelen im Leben der beiden “Grandmothers” recht konstruiert, aber nicht unrealistisch. Lessing beschreibt ironisch, wie einfach es die Frauen und ihre Söhne haben: Es handelt sich um zwei wohlhabende Familien, die die meiste Zeit am Strand verbringen. Wahre Probleme gibt es in dieser sonnengefluteten Welt schöner älter werdender weiblicher und scheinbar immer schön bleibender männlicher Körper nicht. Bis die Zeit zuschlägt, und das mit einer gehörigen Wucht, die das Buch allemal lesenswert macht.

Ich weiß nicht, ob “Tage am Strand” typisch ist für das Werk Lessings, aber als leicht zugänglicher Einstieg in ihre Literatur ist es passend. Mir hat die Geschichte gefallen, wenngleich sie recht stark von all dem abweicht, was ich sonst so lese. Dennoch ist es keine klassische “Frauenliteratur”, es geht nicht primär um die Gedankenwelt der beiden Protagonistinnen, es geht um das Älterwerden, das Die-Zeit-Festhalten-Wollen und um zwei “unerhörte” Liebesbeziehungen. Man liest das dünne Werk in einer guten Stunde durch – und diese Stunde ist ganz sicher nicht verschenkt.

Der Film

dafdb3cfbe

Anne Fontaine hat “Tage am Strand” mit Naomi Watts in der Rolle der Lillian und Robin Wright in der Rolle der Rozeanne verfilmt. Und es ist ihr leider gründlich misslungen.

Die ironischen Untertöne der Buchvorlage, die die scheinbar so perfekte, heile Welt, in der die beiden Frauen leben, karikieren, finden im Film nicht statt. Handwerklich ist der Film vollends solide und die Schauspieler sind jederzeit glaubwürdig. Aber bereits bei den Dialogen fängt es an: Von Kitsch triefende Kurzsentenzen über Herzschmerz und Seelenleid werden der Vorlage nicht gerecht.

Auch die Settings sind leider etwas zu pathetisch gewählt: Die scheinbar perfekte Welt der Damen durch ebenso makellose Landschaften und Wohnräume zu stützen, ist eine gute Idee, aber dann gehört beides auch, wie im Buch, ironisch gebrochen. Alles ist vorhersehbar: Eine Geschichte von zwei älter werdenden Frauen, die sich irgendwann mit dem Sohn der jeweils anderen einlassen, bis es zur Katastrophe kommt. Mehr nicht. Die großen Themen, die die literarische Vorlage streift, werden hier links liegen gelassen. Was bleibt, ist Kitsch.

Schade, das wird Frau Lessing nicht gerecht. Und wiedermal hat sich bestätigt: Never judge a book by its movie.

PS:
Wie es der „Zufall“ so will, hat der Herr Winterling von 54books vor kurzem exakt das gleiche Buch gelesen und den gleichen Film gesehen – und auch noch darüber geschrieben!