“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”
Rhythmus: Ein Dorf im Dialog
Die obigen Zeilen, der Anfang des Werks, mit dem Stanišić den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gewann, enthalten in nuce bereits den Ton des Ganzen, destilliert auf wenige Zeilen: Ein kollektives “Wir” spricht mit dem “Du” des Lesers (oder einem anderen Du?), eine Dialog spannt sich auf, die Grundstimmung ist latent traurig (der Fährmann ist tot), es gibt zwei Seen, die Eisbrocken “klacken”. Mehr braucht man nicht, um in einen Text einzuführen, der seinen Sog von der ersten Zeile an entwickelt und dessen sprachlicher Rhythmus bis zum Ende keinen Jota nachgibt.
Fürstenfelde in der Uckermark, ein Dorf wie viele andere, am Vorabend eines großen Volksfestes: Die Nacht ist regnerisch, die Menschen sind gespannt. Morgen wird Anna verbrannt, beim großen Annenfest. Dem Fest, bei dem ein Schwein begnadigt wird, wo es eine antifaschistische Radtour gibt und wo die Trinker um Lada, Ulli, Imboden und Suzi besonders früh vorglühen. Jedenfalls erhoffen sie sich das, in der Nacht vor dem Fest.
Stanišić stellt kaleidoskopartig in kürzesten Kapiteln die Bewohner Fürstenfeldes vor, allesamt entweder Wendeversager, Zugezogene oder Jugendliche, die zumeist eines wollen: weg. Wir lernen einen pensionierten NVA-Offizier kennen, der verzweifelt versucht, an die letzte Zigarette seines Lebens zu kommen, wir lernen Dietmar Dietz kennen, der zu DDR-Zeiten die Finger nicht von den Briefen der anderen lassen konnte, wir lernen Ulli kennen, der seine Garage zur Kneipe umfunktioniert, wo es schön ist, aber nicht zu schön (damit das Betrinken auch gelingt), und wir lernen eine Fähe kennen, die durch Wald und (Fürsten)Feld streunt, Dietz’ Rassehühnern auf der Spur. Hinzu kommen noch viele andere höchst irrwitzige (weil: so ist er, der Alltag, nicht nur in der Uckermark), aber realistische Gestalten, die Fürstenfelde bewohnen und irgendwie durch die Nacht vor dem Fest kommen wollen.
Stil: Kollektiver Dorfgeist, jetzt und früher
Von “Vor dem Fest” hatte ich nach Leipzig gehört, auf meinem literarischen Radar hatte ich es deshalb nicht automatisch, auch dann noch nicht, als die Longlist rauskam. Ursprünglich erschien “Vor dem Fest” bei Luchterhand. Aufmerksam wurde ich erst durch das Erscheinen des Werks in derBüchergilde: Über meinen Quartalskauf war dann recht schnell entschieden. Bereut habe ich es nicht.
Stanišić schreibt wie ein Bildhauer, trifft jeden Ton. Dabei ist sein Stil leichtfüßig, mal subtil, mal schreiend komisch-ironisch. Der Dialog, in den das Kollektiv Fürstenfeldes den Leser zieht, ist gelungen, erfrischend anders. Es ergeben sich Freiheiten für den Autor, wenn der Erzähler kein allwissendes Irgendwas ist, sondern ein Dorf, eine Dorfseele, ein Dorfgeist. Dieser Dorfgeist war immer und ist auch jetzt: Stanišić wäre nicht Stanišić, wenn nicht eine große Portion Vergangenheit gleich mitserviert werden würde. In barocker Sprache streut er somit Episoden der Dorfgeschichte ein, kollektive Erinnerungen des Wir, die zugleich die Gegenwart der Nacht vor dem Fest verdichten. Das kann nur die Sprache, der Stil eines Könners. Stanišić fühlt sich ein in die Innenwelt der fiktiven Uckermärker und kann dieses Eingefühltsein stilistisch nach außen kehren, in einfachen Worten und Sätzen, die passgenau dem Denk-Tonfall der Porträtierten entsprechen. Besonders gelungen sind die Kapitelanfänge, hier zwei Beispiele:
“Und Herr Schramm, ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei Von Blankenburg Landmaschinen, schaut die Sportclips auf sport1: Martina (19, Tschechien) macht Sport. Martina spielt Billard. Herr Schramm ist ein kritischer Mann.”
“In der Thälmann-Straße 16 in der Nacht: Musik. Dietmar Dietz, genannt Ditzsche, wohnt dort. Unverheiratet, zu Kindern und Tieren immer ehrlich, Briefträger vor der Wende, heute fünfzehn Rassehühner.”
Kunst: Vor allem ein Echo, ein Nachhall
Schlechte Literatur erkenne ich daran, dass ich nicht über sie nachdenke, wenn ich gerade mal nicht lese. Schlechte Literatur lässt mich kalt. Gute Literatur hingegen hallt nach. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass mich die Figuren, die Dialoge, die Geschehnisse begleiten: Dass ich über den Protagonisten nachdenke, über seine Sorgen und Hoffnungen, dass ich mir die Nebenfiguren vor Augen führe und mit ihnen innerlich (beim Einkaufen, Joggen, Arbeiten, was auch immer) mitleide und mitfiebere, auch wenn das Buch zugeklappt ist. Stanišić schafft genau das: Er bringt Fürstenfelde zum Nachhallen.
Der Nachhall eines stilistischen Kunstwerks, der sicher noch lang anhalten wird.
Da sieht man mal, was man so verpasst, wenn man nicht in Deutschland ist. Dank Deiner Besprechung möchte ich das Buch jetzt auch lesen. Auch gerne in der Ausgabe der Buchgilde.
ich lese das buch gerade und werde im gegensatz zu dir nicht warm damit. gerade die sprache stanišićs macht mir probleme, dieses ruckelnde, an drei-wort-sätze erinnernde. und sind die menschen in der uckermark wirlich so … ähhh … seltsam? vllt packt es mich ja noch, die hälfte habe ich ja noch zu lesen….
Sehr gute Entscheidung! Du sagst, du bist nicht in Deutschland: Wo bist du denn gerade, wenn ich fragen darf?
Vielen Dank für deine Einschätzung! Ich denke, wenn dich die Sprache schon jetzt nicht packt, wird sie das auch später nicht. Interessant ist, dass du die Sprache als ruckelnd empfindest, ich finde sie gerade sehr rund und rhythmisch.
Die Menschen in der Uckermark sind bestimmt nicht wirklich so, wie im Buch 🙂 Obwohl, ich war noch nie da…