Luke Pearson – Was du nicht siehst

Man sieht nur mit dem Auge gut, ganz frei nach Herrn Saint-Exupéry, aber Vieles bleibt ungesehen. Was entgeht unserem Blickwinkel, was übersehen wir, und, vor allem: Was würde sich ändern, könnten wir unseren Blick schärfen, unsere Perspektive wechseln?

Dies sind die Themen, denen sich Luke Pearson in seinem neuen Comic “Was du nicht siehst” widmet, auf deutsch vor kurzem bei Reprodukt erschienen.

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Familie, Betrug und Eishockey

Wer wie ich auf dem Land aufgewachsen ist, weiß, dass die Uhren dort anders gehen. Langsamer, bedächtiger. Das gilt bereits für von mir liebevoll als solche bezeichnete Käffer in der überschaubaren Weite zwischen südlichem Niedersachsen und nördlichem NRW. Umso mehr gilt diese (Vorsicht, Neologismus!) Anderszeitigkeit jedoch da, wo die Dimensionen größer werden: In der gar nicht mehr so überschaubaren, unendlich weiten, schneeweißen Landschaft Kanadas.

Dies ist der Ort, an dem die Handlung der “Essex County” – Geschichten des frankokanadischen Zeichners und Szenaristen Jeff Lemire spielen. Für eingefleischte Comicleser ist Mr Lemire spätestens nach “Sweet Tooth” längst kein Geheimnis mehr. Ich habe “Essex County” erst jetzt gelesen, genau genommen habe ich die Lektüre vor weniger als fünf Minuten beendet und umso stärker noch ist der Nachhall dieses großartigen Werks. Dass dieser literarische Nachhall, dieser angenehme Geschmack auf der Zunge, den beeindruckende Literatur hinterlässt, sich so schnell verflüchtigen wird, wie es bei manch mittelmäßiger Erzählung der Fall ist, ist hier nicht zu erwarten. Mehr noch: “Essex County” wird bleiben, als ein Buch, dass mich sehr berührt hat.

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Lemire erzählt in drei Hauptgeschichten mit den Titeln “Tales from the Farm”, “Ghost Stories” und “The Country Nurse” von Außenseitern, die im Nirgendwo Kanadas versuchen, ihren Alltag zu meistern. Wir treffen den 10jährigen Lester, dessen Herkunft im Dunkeln liegt und der durch Comics überlebt (wäre der Autor nicht sowas von mausetot, würde ich hier was zur Biographie von Lemire schreiben, dem Comiczeichner, der zufällig im realen Essex County geboren wurde); wir lernen den gescheiterten, etwas langsamen Erst-Eishockeyspieler-dann-Tankwart Jimmy kennen, wir sehen zwei Brüder, die durch das Missgeschick einer Nacht entzweit werden und erfahren, dass die Krankenschwester Anne demütig eine Familientradition der Einsamkeit fortsetzt.

Einsamkeit ist die Hauptzutat des meisterlichen Gemischs, das Lemire anrichtet, während als weitere Ingredienzen Familie, Freundschaft, Betrug, Versagen und…sagte ich schon Eishockey? Was für deutsche Ohren unverständlich klingt, ist in Kanada Fakt: Eishockey ist Bestandteil des täglichen Lebens, eine Art soziales Schmiermittel gegen die Einsamkeit der Weite, ein Bindemittel für Familie und Freundschaft. Lemire zeichnet diese Geschichten von normalen Leuten, die alle miteinander verwoben sind und sich gegen die Zeit stemmen, in seinem unverwechselbar rauen Strich, schwarzweiß, mit nur wenig Grautönen, dennoch dank vieler Details stets differenziert. Und immer subtil, nie effektheischend, nie aufdringlich.

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Dass der Alltag normaler Menschen mit das Spannendste ist, was Literatur, sei es in Comicform oder als Prosatext, zu bieten hat, scheint bei vielen noch nicht angekommen zu sein. Aber es ist so: Die Scheinplatitüde, das Leben schreibe die besten Geschichten, ist keine. Sie stimmt.