Man sieht nur mit dem Auge gut, ganz frei nach Herrn Saint-Exupéry, aber Vieles bleibt ungesehen. Was entgeht unserem Blickwinkel, was übersehen wir, und, vor allem: Was würde sich ändern, könnten wir unseren Blick schärfen, unsere Perspektive wechseln?
Dies sind die Themen, denen sich Luke Pearson in seinem neuen Comic “Was du nicht siehst” widmet, auf deutsch vor kurzem bei Reprodukt erschienen.
Die Story
Der Protagonist, ein hagerer, zurückhaltender Eigenbrötler, schätzungsweise Ende Zwanzig, streitet sich mit seiner Freundin, es kriselt. Die beiden trennen sich, räumlich und emotional. Versuche einer Rückgewinnung werden vorgenommen. Am Ende steht eine große Leere – und die Lehre, das man achtsam aufpassen muss, um im Umgang mit seinen Mitmenschen nichts zu übersehen.
Ist das Kitsch?
Nein, ganz und gar nicht. Pearson, der sich mit der Hilda-Reihe bisher einen Namen als Macher von Comics gemacht hat, die vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen, legte hiermit sein erstes Werk vor, das sich nur an Erwachsene wendet. Der Protagonist irrt durch seinen zunehmend verkorksten Alltag wie im Autopilot und übersieht Wesentliches, weil er seinen eingeübten Mustern nicht entkommen kann. Es ist eine Liebesgeschichte, die beim Scheitern innehält, die ein Happy End zum Glück gar nicht erst andeutet. Das ist konsequent und lesenswert. Der englische Originaltitel, Everything we miss, trifft den Kern der Geschichte nochmal ungleich genauer und poetischer.
Orange ist the new Black
Ein Comic ist ein wirklich gutes Comic, wenn Form und Funktion ineinandergreifen (das mag für jede Kunst gelten, verdammt, jetzt muss ich aufpassen, dass ich mich nicht in laienhafte kunsttheoretische Laienausführungen versteige) – bei Pearson gelingt das enorm gut: Das inhaltliche Motiv des Bandes, nämlich all die verpassten Chancen, all das Übersehene, wird immer wieder grafisch aufgegriffen und gestützt. Wir, die Leser, sehen Riesen, die einen Meteor knapp an der Erde vorbeischleudern, wir sehen eine kränkliche alte Frau, die heimlich in Einzelteile zerfällt und wir sehen Heerscharen von Anuriden (wer wissen will, was das ist, der lese das Buch). Dabei nutzt Pearson eine besondere Farbpalette: Zu Graustufen gesellen sich Schwarz, Weiß und – Orange. Eine Menge Orange. Das funktioniert, das harmoniert. Der meist vorherrschende Kontrast Schwarz/Orange erweckt den Eindruck, das gesamte Leben der Hauptperson wäre in ein trauriges, mattes Abendlicht gehüllt.
Mehr davon!
Leider krankt das Werk jedoch an einem erheblichen Mangel: Es ist zu kurz. Das soll natürlich auch ein Lob sein, aber, trotz der großartigen Idee und Umsetzung, muss angemerkt werden, dass sich die Geschichte ein wenig unfertig anfühlt. Hier geht einiges an Potential leider über den Jordan. Es ist eine Kurzgeschichte in Comicform, die man in einer Dreiviertelstunde durchgelesen hat. Und dann nochmal lesen will. Und nochmal. Lieber Luke Pearson: Bitte schreibe mehr davon, mehr Slice-Of-Life, mehr und vor allem längere Alltagstragik für Erwachsene. Ich fühlte mich an Jeff Lemires “Essex County” und an Chris Wares “Jimmy Corrigan” erinnert, und meiner Meinung nach hat Pearson tatsächlich das Potential, in dieser Liga mitzuspielen.
Ich hoffe, er nutzt dieses Potential demnächst einmal in Langform.