Social Reading nach alter Schule: Vom Lesen im Lesekreis

“Lesekreis” – das klingt verstaubt, altbacken, langweilig. Stimmt das?

Schon seit der Schulzeit hegte ich den Wunsch, einmal einem Lesekreis anzugehören, der sich regelmäßig trifft und ein Forum bietet, um die gemeinsame Leidenschaft für Literatur zu feiern. Vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren gründete ich dann spontan gemeinsam mit einigen anderen Münsteranern einen Lesekreis. Jetzt, über 25 monatliche Lesekreis-Treffen später, möchte ich meine Erfahrungen mit dem gemeinsamen Lesen teilen.

böhm lesekreis buch

Alles begann mit einem Tweet

Unser Lesekreis ist ein Comiclesekreis – das heißt, wir lesen Comics, treffen uns und reden darüber. So einfach ist das. Die Erfahrungen, die diese Form des sozialen Lesens mit sich bringt, sind jedoch auch übertragbar auf Lesekreise mit anderer literarischer Schwerpunktsetzung.

Kein einziges Mitglied unseres Lesekreises kannte ich vor der Gründung. Alles begann mit einem Tweet – leider kann ich diesen Tweet, der aus dem März 2012 stammen muss, trotz intensiver Suche nicht mehr finden. Jedenfalls habe ich die Idee, einen Comiclesekreis in Münster zu gründen, einfach mal in die endlosen Weiten der Twitter-Welt gehauen – und siehe da: Philipp Spreckels hat angebissen.

Zum ersten Treffen des Lesekreises in einer münsteraner Kneipe brachte Philipp dann auch gleich noch einige der weiteren heutigen Mitglieder mit, unter anderem Thies Albers, der wie Philipp und ich ebenfalls über Comics bloggt. Die Welt ist klein. Freunde grafischer Literatur scheint es überall zu geben.

Von dann ging alles ganz schnell: Es wurde der Modus ausgeheckt, sich ein mal im Monat in wechselnden münsteraner Kneipen zu treffen. Bei jedem Treffen wird dann die Lektüre festgelegt, über die beim darauf folgenden Treffen gesprochen wird. That’s it. Mehr Regeln gibt es nicht. Bisher sind wir sehr gut damit gefahren.

So steht es auch im “Lesekreis-Buch” von Thomas Böhm: Erlaubt ist, was gelingt. Und was jedem Mitglied eines Lesekreises Spaß macht. Böhm, langjähriger Leiter eines großen Lesekreises, erläutert in dem kleinen Büchlein seine Erfahrungen und Eindrücke rund um das gemeinschaftliche Lesen in einer festen Gruppe. Das Buch war am Anfang unseres Lesekreises hilfreich, wenngleich es aus heutiger Sicht nur die Oberfläche ankratzt. Viele Erfahrungen muss ein jeder Lesekreis, wie jede lebendige Gruppe, selber machen. Dennoch lohnt die Lektüre für den Start eines eigenen Lesekreises ganz bestimmt.

Gruppendynamik

Im Schnitt sind wir im Lesekreis immer fünf bis acht Personen, wobei der “harte Kern” derjenigen, die so gut wie kein Treffen auslassen, fünf Personen umfasst. Das ist eine gute Größe um lebendige Diskussionen zu führen, bei denen auch jeder mal zu Wort kommt. Gleichzeitig erlaubt diese Größe, noch nicht allzu stark steuernd eingreifen zu müssen. Einen Moderator, der das Gespräch leitet – so, wie es Böhm im “Lesekreis-Buch” vorschlägt –  haben wir bislang nicht benannt. Das war auch nicht nötig: Streit gab es im Lesekreis, soweit ich mich erinnern kann, noch nie. Außer natürlich fruchtbare inhaltliche Auseinandersetzungen, wo es auch schon mal hoch her gehen kann. Aber genau das ist ja gewollt: Wir treffen uns, um über das Gelesene zu reden und dabei auch und gerade die gegenteiligen Ansichten der anderen über die Lektüre kennen zu lernen und zu diskutieren.

Spannend ist, dass sich im Lesekreis bestimmte “Lese-Typen” herausbilden, was die jeweiligen eigenen Präferenzen angeht. Für den Comiclesekreis heißt das: Der eine Leser steht mehr auf US-Superhelden, der andere mag lieber Webcomics, ein Dritter fühlt sich bei sogenannten Graphic Novels am wohlsten. Bei den Lektüren, die gelesen werden und die von Monat zu Monat enorm unterschiedlich sind, ist es immer wieder spannend, zu erleben, wie die anderen auf das Gelesene reagieren und ob es ihnen gefallen hat.

Die monatlich wechselnden Themen sind dabei vielfältig. Es gibt dabei große Unterschiede: Entweder lesen wir eine festgelegte Lektüre, also ein ganz bestimmtes Comic. Oder wir legen einen Autor fest, von dem es dann jedem freisteht, irgendwas zu lesen und vorzustellen. Oder wir benennen einfach ein Thema, zu dem jeder dann einen Comic seiner Wahl mitbringt. Dabei hatten wir schon die verschiedensten Themen und Autoren, von Western über Stadtgeschichte bis hin zu Moebius, Don Rosa und Charles Burns.

Nicht mehr ohne

Ich will die Treffen des Lesekreises auf keinen Fall mehr missen. Gerne erinnere ich mich an wunderbare Abende mit Gesprächen, in denen wir das gemeinsame Hobby gefeiert haben – so wie ich es mir immer ausgemalt habe. Aber es blieb nicht nur bei den allmonatlichen Gesprächstreffen: Mehrere comic-bezogene Exkursionen haben wir auch schon gemacht, sei es nach Dortmund in eine Winsor McCay-Ausstellung oder nach Köln zu einer Ausstellung über Art Spiegelmans “MAUS”. Ganz zu schweigen von der nerdigen, aber kulinarisch fantastischen StarWars-Weihnachtsfeier…

Und in Zukunft?

Erst vor kurzem kam ein weiteres Mitglied hinzu, das, wie es aussieht, gute Chancen hat, dauerhaft dabei zu bleiben. Da kein Ende in Sicht ist und da wir darüber reden, die Comickultur nicht nur für uns zu betreiben, sondern eventuell mit dem Ganzen mal die ein oder andere kulturelle Veranstaltung anzuschieben, steht eine Vereinsgründung im Raum. Das ist ein Projekt für die Zukunft, das wir in nicht allzu weiter Ferne angehen werden, wobei noch keine Entscheidung gefallen ist. Ansonsten kommt immer mal wieder der Vorschlag auf, im Wege einer größeren und längeren Exkursion der Comic-Szene in Berlin mal einen Besuch abzustatten.

Der Lesekreis lebt und wächst. Aus einer spontanen Idee wurde eine feste monatliche Institution. Den Lesekreis mitzugründen, war definitiv eine meiner besten Entscheidungen der letzten Jahre.

Ich kann jedem nicht allzu menschenscheuen Literaturfreund nur empfehlen, sich nach Lesekreisen in der eigenen Umgebung umzuschauen. Oder besser noch selber einen zu gründen.

Es lohnt sich!

Mouse Guard und die Artefaktfalle

Im Medium Comic scheinen Mäuse eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen. Erst Disneys “Mickey Mouse”, dann Spiegelmans “MAUS”…und nun David Petersen, der mit “Mouse Guard” einen Nager-Comic vorlegt, der in den letzten Jahren für Furore sorgte.

mouseguard2

Das Buch selbst ist bereits haptisch ein Leckerbissen. Ich habe die englische Version von “Mouse Guard: Fall 1152” gelesen, die als Hardcover im Verlag TitanBooks erschienen ist. Auf deutsch erscheint Mouse Guard bei CrossCult. Das Buch ist hervorragend gebunden, die Vorsatzseiten sind bereits äußerst liebevoll gestaltet. Die Ausgabe vereint neben den sechs Kapiteln der eigentlichen Geschichte noch einen Anhang mit ebenfalls aufwändig gestalteten Landkarten und Infos aus der Welt von Mouse Guard.

Und diese Welt ist hart. Die Mäuse leben in abgeschotteten, geheimen und autonom organisierten Städten und Dörfern im Wald. Um jedoch von Ort zu Ort zu gelangen, ohne von ihren vielen Feinden überrascht zu werden, haben die Mäuse eine Art städteübergreifende Allianz gegründet: Die Mouse Guard. Im Zentrum der Geschichte stehen drei Vertreter eben jener Wache, die nach und nach einem Komplott auf die Spur kommen, der die Autonomie der Städte und die Freiheit der Mäuse selbst bedroht.

Soviel zur reinen Geschichte, die leider aufgrund des wenig inspirierten Settings und ihrer latenten Vorhersehbarkeit auch gleichzeitig der größte Schwachpunkt des Bandes ist. Denn leider greift auch bei dieser Fantasygeschichte das, was ich als Artefaktfalle bezeichne: Ein einzelner, mit allerhand Mythos und Macht aufgeladener Gegenstand bildet den Mittelpunkt der Story und entscheidet über Sieg oder Niederlage. War diese Idee beim “Herr der Ringe” noch revolutionär, so wirken heutige Fantasywerke, bei denen die Artefaktfalle zuschnappt, für meine Begriffe etwas schwach. Bei Mouse Guard ist es eine mystische Axt, die die Artefaktfalle zuschnappen lässt. Das ist schade, da durch diesen Mangel an erzählerischer Tiefe viel Potential verschenkt wird. Dabei zeigt doch aktuell beispielsweise George R. R. Martin mit “Game of Thrones”, dass brillante Fantasy auch ohne geheiligte und ach-so-übermächtige Artefakte möglich ist.

Mouse Guard The Back Axe

Bei Mouse Guard allerdings gibt es eine Besonderheit: Die Story tritt, auf ganzer Linie, hinter den wahrhaft fulminanten Zeichnungen und der exzellenten Koloration zurück. Das Werk ist optisch so herausragend, dass ich die narrativen Mängel allzu gerne verzeihe. Lettering, Zeichnungen, Panelaufteilung, Perspektive, Licht, Farben, Atmosphäre – hier stimmt grafisch einfach alles. Mir fällt spontan kein Comic ein, der mich grafisch ähnlich stark begeistert hat.

Über die Story sagte ein guter Freund von mir, bereits nach wenigen gelesenen Seiten: “Als die Tiere den Wald verließen meets Herr der Ringe” – und damit hat er definitiv nicht ganz Unrecht. Grafisch jedoch mein bisheriges ganz persönliches Comic-Nonplusultra.

Wer bereit ist, erzählerische Abstriche in Kauf zu nehmen und diesmal weniger auf seinen Verstand, als vielmehr auf seine Augen zu hören (ja, genau, richtig gelesen), der macht mit “Mouse Guard” alles richtig. Ich jedenfalls werde mir den zweiten Band zulegen.

Ode an die Neunte Kunst: “Yay, Comics!”

Die Podcast-Szene wächst und gedeiht, und Bücherpodcasts gibt es viele. Unter den Podcasts, die sich dezidiert mit Comics befassen, gibt es leider nur wenige Perlen. Eine davon möchte ich allen Comicbegeisterten und solchen, die endlich auch zu diesem illustren Kreis gehören wollen, empfehlen: „Yay, Comics!“ des berliner Kreativen Carlito.

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Seit knapp einem Jahr wandert Carlito durch die berliner Comicszene und berichtet im Gespräch mit diversen Vertretern der Neunten Kunst über Neuerscheinungen aller Art, über Autoren, Zeichner, Verlage, Stile, Verfilmungen, Messen, Cons und mehr. Das Ganze ist handwerklich auf einem sehr hohen Niveau und wird, sehr zu meiner Freude, stets mit entspannt-jazzigen Pianoklängen untermalt. Dabei deckt das Repertoire der Themen inhaltlich nahezu das gesamte weite Feld der Comics ab, wenngleich ein leichtes Übergewicht hin zu amerikanischen (Superhelden-)Comics gegeben ist. Aber das lässt sich verschmerzen.

Der Stil ist locker, es wird einfach drauflos geplaudert, zum Glück gibt es kein Skript. Gern gesehene Gesprächspartner sind dabei vor allem die Jungs des berliner Comicladens „Grober Unfug“. Alles wirkt ein wenig improvisiert, aber gerade das macht den Reiz des Podcasts aus. An einigen Stellen musste ich laut lachen, an anderen zumindest schmunzeln, immer fühlte ich mich gut unterhalten.

Bisher sind 16 Folgen erschienen, die allesamt im Schnitt etwa eine Stunde lang sind. Diese Stunde ist gut investiert. “Yay, Comics!” eignet sich meiner Meinung nach nicht nur für eingefleischte Fans des grafischen Erzählens, sondern insbesondere auch für Anfänger. Neben den Comics an sich erfährt man auch einiges über die berliner Comicszene.

To cut a long story short: Reinhören lohnt sich!