Versuchung und Versagen: Zwei Mal Dostojewskis “Spieler”

Im Sommer 2006 habe ich in New York City ein Praktikum bei einem Strafverteidiger gemacht, der sich unter anderem auf Mord und Totschlag spezialisiert hat. Gleichzeitig habe ich die letzten Kapitel von Fjodor Dostojewskis “Schuld und Sühne” gelesen. Diese Kombination hatte es in sich. Manche der realen Fälle erinnerten mich an die Hauptfigur aus Dostojewskis großem Roman. Seitdem gehört der russische Weltliterat zu meinem engsten Favoritenkreis.

Vor einigen Wochen beschlossen einige Freunde und ich, gemeinsam Dostojewskis “Der Spieler” zu lesen. Gesagt getan: Die kürzere, in nur 26 Tagen von Dostojewski an eine Stenographin herunterdiktierte Erzählung war schnell gelesen, um nicht zu sagen verschlungen. Als ich dann auf Twitter vom Splitter Verlag erfuhr, dass es von diesem Werk eine Adaption als Graphic Novel gibt, war mein Interesse aufs Neue geweckt. Doch eins nach dem anderen.

Das Buch: Dostojewskis “Der Spieler” von 1866

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Der junge Mittzwanziger Aleksej Iwanowitsch ist Hauslehrer in der Familie eines Moskauer Generals, der sich samt familiärem Gefolge in der fiktiven deutschen Stadt Roulettenburg aufhält, wo die Familie eine Hotelsuite bewohnt. Aleksej ist der selbstbewussten Polina verfallen, der etwa gleichaltrigen Stieftochter des Generals, die ihn jedoch mit Nachdruck immer wieder abblitzen lässt. Der General ist, genau wie Polina, hoch verschuldet und hofft auf nichts sehnlicher als auf das baldige Ableben der reichen Erbtante, die im fernen Moskau, wie der General hofft, in den letzten Zügen liegt. Aufgrund dieser finanziellen Notsituation bittet Polina den ihr anfangs scheinbar willenlos ausgesetzten Aleksej, für sie Roulette zu spielen, den Gewinn könne man sich teilen. Aleksej sagt zu und in der Folge entspinnt sich aufgrund der beginnenden Spielsucht des Protagonisten und aufgrund des Geflechts aus Abhängigkeiten, Hass und Gier eine höchst unterhaltsame Geschichte mit einem zutiefst berührenden Ende. Soviel sei gesagt: Die Spielsucht ist am Ende stärker als die Liebe, die Gier stärker als die Vernunft. Niemand gewinnt, weder am Spieltisch noch im sogenannten echten Leben. Aber bei Dostojewski verwundert das nicht.

Das Buch hat mir große Freude bereitet. Dostojewski schafft es, ein Psychogramm des Protagonisten zu entwerfen, dass gleichzeitig keinesfalls alltäglich und höchst glaubhaft ist. Dabei vollbringt der große russische Autor das Kunststück, der düsteren Geschichte immer wieder humorvolle Momente abzuringen: Der Beziehungsreigen in Roulettenburg, bestehend aus familiären Bünden, aus Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, aus länderübergreifender Freundschaft und patriotisch geschwängerter Fremdenfeindlichkeit, aus Liebe, Erotik, Standesdünkel und Altersunterschieden schwingt immer an der Grenze zur Satire, ist immer auch als Lustspiel lesbar. Gleichzeitig weicht der Ton niemals von dem Grundthema ab: Dem Schicksal eines Mannes, der, fahrig und unstet, kein bisschen geerdet, auf die Versuchung trifft – und verliert.

“Der Spieler” ist ein autobiographisches Werk, auch Dostojewski selbst war jahrelang spielsüchtig. Aufgrund enorm hoher Schulden ging er einen höchst gefährlichen Deal mit seinem Verleger ein: Wenn er es nicht binnen 26 Tagen schaffe, einen neuen Roman vorzulegen, verliert Dostojewski alle Rechte an seinem Gesamtwerk an den Verleger. Dostojewski stimmte zu. Er heuerte sofort die junge Stenographin Anna G. Snitkina an, um durch das Diktat die Chance zu haben, die Frist einzuhalten. Er hielt sie ein. Und wenig später heiratete er die Stenographin.

Das Comic: “Der Spieler”, von Stephane Miquel & Loic Godart, 2012

Im Mai 2012 erschien im Splitter Verlag die Comicadaption des klassischen Stoffes. Das gebundene Buch besticht beim ersten Anfassen sogleich durch die tolle Verarbeitung und – was mir beim ersten Durchblättern auffiel – durch das besonders schwere Papier. Es ist immer wieder erfreulich zu sehen, dass Comics nach und nach auch bibliophilen Ansprüchen genügen. Weiter so, Splitter!

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Die Adaption durch den Szenaristen Miquel besticht zunächst durch ihre Einfachheit: Der Vorlage wird die Treue gehalten, sofern es um das Kerngeschehen geht; Nebenkriegsschauplätze und Szenen des Grundwerks, die die Geschichte nicht direkt vorantreiben, wurden weitgehend ausgespart. Das könnte Puristen ärgern; ich denke, dass es in einer grafischen Literaturadaption nicht darauf ankommt, dutzende Seiten umfassende innere Monologe darzustellen. Das geht im Medium Bild viel komprimierter: Die Atmosphäre, die ein Prosatext über viele Seiten aufbaut, kann ein einziger Blick des Protagonisten widerspiegeln.

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Zumal, wenn es sich um so fantastische Zeichnungen handelt wie die von Godart. Der Stil des Zeichners wirkte auf mich gleich sehr angenehm und ruhig und das auf eine Weise, die ich vorher noch nicht gesehen habe: Die Figuren sind minimal überzeichnet, satirische oder inhaltlich berührende Szene sind mit Zurückhaltung aufs Wesentliche reduziert, was ihre Wirkung nur noch erhöht. Der Stil mäandriert stets zwischen einem Hauch Realismus und einem Hauch Cartoonhaftigkeit und bewirkt damit eine ganz eigene visuelle Leseerfahrung.

Das einzige Manko ist jedoch die Koloration: Mit Godarts Farben verbindet mich eine Hassliebe. Ich liebe Pastelltöne aufgrund ihres Facettenreichtums, und genau das ist es, was man grafisch braucht, um Dostojewski gerecht zu werden: Facettenreichtum, Details, Differenzierungen. All das schafft Godart zeichnerisch und über weite Strecken auch farblich. Leider übernimmt er sich gelegentlich, wenn beispielsweise ganze Seitenfolgen in Sepiatönen gehalten sind, ohne dass dies inhaltlichen Widerhall finden würde oder ästhetisch nötig wäre. Die Panelaufteilung ist solide, aber konservativ, ebenso wie das Lettering – hier hätten sich Szenarist und Zeichner vielleicht noch ein wenig mehr trauen können.

Das Ende hingegen wandeln Miquel und Godart in einer Weise ab, die ich auch für das Buch erwartet hätte: Die Tragik wird noch einmal gesteigert, das Schicksal des einen Menschen wird mit dem des anderen noch intensiver verbunden. Das gelingt hervorragend.

Insgesamt ist “Der Spieler” eine sehr lesenswerte Literaturadaption und definitiv ein Muss für alle Dostojewskifreunde oder klassikerverliebte Comicneulinge.

Neuzugänge im Februar

In den letzten Wochen konnte ich wieder einige Neuzugänge verzeichnen, die dieses Mal endlich wieder recht comiclastig ausfallen. Die meisten der neuen Schätze sind Hardcoverausgaben, sodass sich vor allem auch das Auge freut. Dieses Mal kulminiert die Beschreibung der Werke in jeweils nur einem Wort. Denn in der Kürze liegt…ihr wisst schon. Wortneuschöpfungen, oder – wie der Wannabe-Intellektuelle sagt – Neologismen nicht ausgeschlossen.

1. Art Spiegelman – METAMAUS

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Dekonstruierend.

2. Neil Gaiman – DEATH Deluxe Edition

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Emonarrativ.

3. Silvain Ricard, Maél / Franz Kafka – In der Strafkolonie

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Kontrastreich.

4. Thomas Klugkist – 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann

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Erhebend.

5. Isabel Kreitz / Erich Kästner – Emil und die Detektive

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Freundinwunsch.

6. H. G. Wells – 5 Great Science-Fiction Novels

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Vorauseilend.

7. Gabriel Ba, Fabio Moon – Daytripper

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Berührend.

Doppelrezension: “Traumnovelle”

Arthur Schnitzler, mein Liebling unter den Jungen Wienern, hat mit der Traumnovelle 1925 nicht nur einen Klassiker vorgelegt, der bis heute Gegenstand vielfältiger Interpretationsversuche ist, sondern nun ist er auch in grafischer Form gewürdigt worden: Jakob Hinrichs verarbeitete den Stoff der Traumnovelle in eine Graphic Novel, die ich über die Büchergilde Gutenberg bezog. Ich habe mir beide Werke, die literarische Vorlage und die grafische Adaption, zu Gemüte geführt und will einige Zeilen dazu loswerden.

Schnitzlers Traumnovelle von 1925

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Der ungefähre Inhalt dieses klassischen Werks der Kaffeehausliteratur dürfte spätestens seit der (sehr gelungenen) Verfilmung von Stanley Kubrick bekannt sein (Eyes Wide Shut). Arzt Fridolin und seine Frau Albertine gehören zur Wiener Oberschicht, wahrscheinlich zur Jahrhundertwende, haben eine kleine Tochter, ein Hausmädchen und viel zu wenig Sorgen. Sie verbringen ihre Zeit auf Bällen und im Urlaub, beispielsweise in Dänemark. Mit der Zeit scheint sich aufgrund dieses sorgenfrei-leichten Lebens ein Überdruss aufgestaut zu haben, ein Verlangen nach Mehr, vor allem nach scheinbar unerfüllter sexueller Begierde. Fridolin erlebt in einer – für die damalige Zeit – recht turbulenten Nacht allerhand absonderliche Situationen, gerät auf einen geheimen Maskenball, der in eine Art Orgie mündet. Fridolin wird barsch des Platzes verwiesen und beginnt, Nachforschungen anzustellen. Albertine hingegen träumt für die damalige Zeit ähnlich Unerhörtes, das über einen reinen Ehebruch hinausgeht.

Die Novelle ist aus der Sicht von Fridolin geschrieben, der jedoch nicht als Ich-Erzähler auftritt. Dabei gelingt Schnitzler das Kunststück, den Protagonisten dem Leser gleichzeitig sehr nahe zu bringen und doch auf Distanz zu halten: Fridolin träumt, er träumt die gesamte Zeit über, entweder im tatsächlichen Schlaf, als Tagtraum oder in Form eines sehnsüchtigen Sich-Hereinsteigerns in etwas, das er nicht ist. Diese Traumwelten werden ausdifferenziert beschrieben, am Ende der Geschichte jedoch, wenn Fridolin gleichsam “aufwacht”, weiß der Leser keinesfalls, wer Fridolin wirklich ist. Der Leser träumt mit Fridolin, nimmt Anteil an dessen kurzzeitiger Veränderung und weiß dabei über die gesamte Zeit nicht, ob dieser Fridolin, mit dem er fühlt, in seinen Anlagen bereits so ist, wie er es sich erträumt: Mutig, kühn, bereit, alles für kurze, aber heftige sexuelle Erfüllung aufzugeben. Am Ende wird klar, dass der Traum der Eheleute nur auflösbar ist durch offene und ehrliche Kommunikation. Der Eskapismus in den Traum war notwendig, um den Alltag klarer zu sehen.

Die Traumnovelle hat mir außerordentlich gut gefallen. Sprachlich und inhaltlich harmonisch, regt das Werk zum Nachdenken an über Alltag und Traum. Ein großes Stück Weltliteratur, das meiner Meinung nach in der öffentlichen Wahrnehmung ein wenig unterschätzt wird.

Jakob Hinrichs’ grafische Adaption

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Ich habe es versucht. Ich habe wirklich versucht, mich nach einigen Verrissen möglichst objektiv an diese Graphic Novel zu setzen und sie unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Und ich bilde mir ein, das auch geschafft zu haben. Dennoch muss auch ich festhalten, dass ich dieses Comic von Hinrichs für in keinster Weise gelungen halte.

Ich habe nichts gegen Comics, bei denen man für jedes Panel einige Zeit braucht, um es zu verstehen, bei denen das Lesen dem Leser einiges abverlangt. Dies ist hier jedoch, trotz des hohen Maßes an Abstraktion und teils strenger Bildkomposition, nicht der Fall. Die Traumnovelle nach Hinrichs spielt im Hier und Jetzt, in unserer heutigen Zeit, und bereits das halte ich ganz persönlich für eine Fehlentscheidung. Heute vermag uns aufgeklärte, gebildete Westeuropäer nichts mehr zu schocken. Zur Erscheinungszeit der ursprünglichen Traumnovelle war das vollkommen anders. Dadurch klafft die Schere zwischen Inhalt und Form das erste mal ein wenig auseinander: Das Traumhafte, das dem Verbotenen anhaftet, schafft den Zeitsprung ins Heute nicht. Hinzu kommt, dass Hinrichs diesen Zeitsprung sprachlich nicht durchhält: Mal bedienen sich die Personen einer modernen Sprache, um dann wieder altbacken von Ehrverletzung und Genugtuung zu sprechen. Das ist inkonsequent.

Ich bin kein Freund flächiger Farben, und davon hat dieses Comic eine Menge. Doch auch jenseits dieser persönlichen Geschmacksfrage bin ich der Ansicht, dass die Art und Weise der Farbnutzung hier dem schnitzler’schen Ursprungswerk nicht gerecht wird: Die Farben sind, wie die gesamten Zeichnungen und vor allem auch das Lettering, plakativ, ja, schreiend, aufdringlich. Jener andeutungsweise, subtile Stil der Novelle geht dabei verloren.

Jakob Hinrichs gebührt dennoch Anerkennung für den Mut, die Adaption in dieser Form zu gestalten. Das – von der Vorlage stark abweichende – Ende ist innovativ, indem es einen Einblick der besonderen Art in das Innenleben von Fridolin erlaubt.

Neben der völligen Verkennung des sfumatoesquen Tons der Novelle fehlt der Adaption auch ein weiteres Wesensmerkmal: Der ehelichen Binnenkommunikation zwischen Fridolin und Albertine, tragendes Thema der Vorlage, wird so gut wie kein Raum gegeben.

Damit vollführen in dieser Graphic Novel Inhalt und Form einen Spagat, bei dem das Werk zerbersten muss. Schade, hat die “Traumnovelle” meiner Ansicht nach doch großes Potential für eine grafische Umsetzung.