Kafkas “In der Strafkolonie” in Wort und Bild

Immer auf der Suche nach weiteren Klassikern, die mit Liebe zum Medium Comic gleichsam graphic-novellisiert wurden, stieß ich schon vor einiger Zeit auf Kafkas “In der Strafkolonie”, eine Erzählung, die dieser Meister der Absonderlichkeit während der Arbeit an seinem Romanfragment “Der Proceß” wie nebenbei zu Papier brachte.

Die Novelle: “In der Strafkolonie” von 1919

“Es ist ein eigentümlicher Apparat” – so beginnt der Text, und eigentümlich ist nicht nur der beschriebene Folterapparat, sondern auch die Erzählung an sich. Dabei ist, wie häufig bei Kafka, die reine Handlung schnell erzählt: Ein namenloser Reisender besucht eine Strafkolonie, in der ihm ein – wie alle anderen Personen der Novelle – ebenfalls namenloser Offizier eine Maschine vorstellt, mit der ein menschenunwürdiges Strafverfahren durchgeführt wird, bei dem der Konstrukteur, der alte Kommandant der Strafkolonie, und der Offizier, der nunmehr als Richter tätig ist, nach dem Grundsatz vorgehen: “Die Schuld ist immer zweifellos“. Ein Verurteilter steht bei den Erklärungen des Offiziers bereit, durch den Apparat exekutiert zu werden, wenngleich er sein Urteil noch nicht kennt und auch, dem Grundsatz folgend, keine Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. Die Maschine selbst ist eine Art überdimensionierter, vielfedriger Stift, der das verhängte Urteil in Form eines einfachen Leitsatzes (zum Beispiel “Ehre deinen Vorgesetzten”) so lange mit spitzer Nadel auf den Rücken des Verurteilten tätowiert, bis dieser schließlich den Verstand verliert und verblutet.

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In der Folge entspinnt sich ein Dialog zwischen dem Reisenden, einer Art Rechtsgelehrtem, der die verschiedenen Strafverfahren auf der Welt untersucht, und dem Offizier, der von dem Apparat und dessen Funktionsweise schwärmt. Am Ende trifft der Offizier eine folgenschwangere Entscheidung.

“In der Strafkolonie” hat mich ratlos zurückgelassen, aber genau das erwartet man bei Kafka ja auch. Ich habe schon in der Schule aufgehört, den Anspruch zu pflegen, Kafkas Texte befriedigend interpretieren zu können. Gerade “In der Strafkolonie” ist aufgrund der völligen Unkenntnis über Zeit, Raum und Hintergrund des Geschehens ein höchst surreales Werk, das man meiner Meinung nach nur zurückhaltend rational, aber dafür umso intensiver emotional erfahren sollte. Und Emotionen ruft dieses kleine Werk durchaus hervor: Bei einer Lesung Kafkas in München, bei der er seine “Strafkolonie” vortrug, sollen aufgrund der expliziten Gewaltdarstellung gleich mehrere Frauen in Ohnmacht gefallen sein.

Ohnmächtig ist auch der Reisende in der Erzählung ob der schreienden Ungerechtigkeit des Tötungsapparats, der die alte Ordnung unter dem verblichenen vormaligen Kommandanten der Strafkolonie symbolisiert. Übertragen auf die Nachkriegszeit, so viel latente Interpretation sei mir gestattet, ist “In der Strafkolonie” auch lesbar als Abrechnung mit den letzten Ausläufern eines überkommenen Unrechtssystems, als angewiderter Nekrolog bei der Beerdigung der alten, würdelosen Ordnung. Der begründeten Hoffnung auf einen besseren Neubeginn, die dabei aufkommt, nimmt Kafka sofort allen Wind aus den Segeln, wie das prophetische Ende der Geschichte bezeugt. Aber das gilt es selbst zu lesen.

Eingefleischte Kafkajünger werden die “Strafkolonie” sicher aufgesogen haben, aber auch zurückhaltenden Kafkalesern wie mir, die sich nur dann und wann in gleichsam verträglichen homöopathischen Dosen mit dem tragischen Dichter befassen, kann ich “In der Strafkolonie” nur empfehlen. Müsste ich drei Kafkatexte nennen, die man gelesen haben sollte, so gehört neben der obligatorischen “Heimkehr” und dem von mir geschätzten “Landarzt” auch die “Strafkolonie” dazu.

Das Comic: Ricards und Maëls Adaption von 2007

Wer Kafka in irgendein anderes Medium transportieren will, verfügt entweder über eine ganz gehörige Portion Selbstvertrauen, oder aber ist so ausnehmend gescheit, zu verstehen, dass jede Kafkaadaption scheitern muss und dass gerade deshalb alles erlaubt ist.

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2007 erschien der Versuch von Sylvain Ricard und Maël, die eigentümliche Novelle grafisch einzuhegen, bei Knesebeck. Dieser Versuch ist ambitioniert umgesetzt, aber er überzeugt nur teilweise.

Szenarist und Zeichner bleiben dem Werk dabei in zweierlei Hinsicht treu: Inhaltlich werden keine eigenständigen Akzente gesetzt und Panelstruktur wie Zeichnungen sind klar und streng aufgebaut, ebenso konstruiert wie Kafkas Vorlage. Da das surreale Werk vor allem von Dialogen lebt und sonst nur wenig Handlung aufweist, waren die beiden Comicschaffenden darauf angewiesen, die speziellen kommunikativen Nuancen, die sich im Kontrast Offizier vs. Reisender abspielen, auf der Bildebene herauszuarbeiten. Dies sind die stärksten Stellen des Buches, wenn die Zeichnung des Gesichts des Reisenden auf einen Blick vermittelt, dass er sich noch zurückhält, aber die grausame Foltermaschine bereits verachtet. Hier bedient sich der Zeichner einer Art umgekehrter “Ligne Claire”: Ausdifferenzierte Charakterdarstellungen finden vor einfarbigen, sepiaähnlichen Hintergründen statt. Die Figuren schweben dadurch teilweise gleichsam im Raum, wie die Geschichte selbst. All das passt, all das gefällt.

Hätten Ricard und Maël genau diesen Ansatz nicht nur formal, sondern auch inhaltlich weitergeführt, wäre ihnen eine großartige Comicadaption gelungen. Leider verbleibt das Werk so beim gehobenen Durchschnitt. Gerne hätte ich, wenn auch nur angedeutet, nebulös, eben kafkaesk, mehr über den Offizier, die Kolonie und den Reisenden erfahren. Wo findet all das statt? Wann spielt es? Diese Fragen, die Kafka nicht nur offenlässt, sondern nicht mal anspricht, in Ansätzen anzusprechen oder gar zu beantworten ist keine Schande.

Es ist keine Majestätsbeleidigung, die eingetretenen Pfade des Originals zu verlassen, dieses zu verfremden, weiterzuführen, umzuinterpretieren und neu zu denken. Leider trauen sich all zu viele Comics genau das noch nicht, leider sind sich viele Comicschaffende der unendlichen Freiheit, die das Medium bietet, noch nicht bewusst. Aber das Medium ist jung und erlebt, wie es scheint, gerade erst seine Blüte.

Es wird viel passieren. Ich habe da begründete Hoffnung.

Versuchung und Versagen: Zwei Mal Dostojewskis “Spieler”

Im Sommer 2006 habe ich in New York City ein Praktikum bei einem Strafverteidiger gemacht, der sich unter anderem auf Mord und Totschlag spezialisiert hat. Gleichzeitig habe ich die letzten Kapitel von Fjodor Dostojewskis “Schuld und Sühne” gelesen. Diese Kombination hatte es in sich. Manche der realen Fälle erinnerten mich an die Hauptfigur aus Dostojewskis großem Roman. Seitdem gehört der russische Weltliterat zu meinem engsten Favoritenkreis.

Vor einigen Wochen beschlossen einige Freunde und ich, gemeinsam Dostojewskis “Der Spieler” zu lesen. Gesagt getan: Die kürzere, in nur 26 Tagen von Dostojewski an eine Stenographin herunterdiktierte Erzählung war schnell gelesen, um nicht zu sagen verschlungen. Als ich dann auf Twitter vom Splitter Verlag erfuhr, dass es von diesem Werk eine Adaption als Graphic Novel gibt, war mein Interesse aufs Neue geweckt. Doch eins nach dem anderen.

Das Buch: Dostojewskis “Der Spieler” von 1866

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Der junge Mittzwanziger Aleksej Iwanowitsch ist Hauslehrer in der Familie eines Moskauer Generals, der sich samt familiärem Gefolge in der fiktiven deutschen Stadt Roulettenburg aufhält, wo die Familie eine Hotelsuite bewohnt. Aleksej ist der selbstbewussten Polina verfallen, der etwa gleichaltrigen Stieftochter des Generals, die ihn jedoch mit Nachdruck immer wieder abblitzen lässt. Der General ist, genau wie Polina, hoch verschuldet und hofft auf nichts sehnlicher als auf das baldige Ableben der reichen Erbtante, die im fernen Moskau, wie der General hofft, in den letzten Zügen liegt. Aufgrund dieser finanziellen Notsituation bittet Polina den ihr anfangs scheinbar willenlos ausgesetzten Aleksej, für sie Roulette zu spielen, den Gewinn könne man sich teilen. Aleksej sagt zu und in der Folge entspinnt sich aufgrund der beginnenden Spielsucht des Protagonisten und aufgrund des Geflechts aus Abhängigkeiten, Hass und Gier eine höchst unterhaltsame Geschichte mit einem zutiefst berührenden Ende. Soviel sei gesagt: Die Spielsucht ist am Ende stärker als die Liebe, die Gier stärker als die Vernunft. Niemand gewinnt, weder am Spieltisch noch im sogenannten echten Leben. Aber bei Dostojewski verwundert das nicht.

Das Buch hat mir große Freude bereitet. Dostojewski schafft es, ein Psychogramm des Protagonisten zu entwerfen, dass gleichzeitig keinesfalls alltäglich und höchst glaubhaft ist. Dabei vollbringt der große russische Autor das Kunststück, der düsteren Geschichte immer wieder humorvolle Momente abzuringen: Der Beziehungsreigen in Roulettenburg, bestehend aus familiären Bünden, aus Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, aus länderübergreifender Freundschaft und patriotisch geschwängerter Fremdenfeindlichkeit, aus Liebe, Erotik, Standesdünkel und Altersunterschieden schwingt immer an der Grenze zur Satire, ist immer auch als Lustspiel lesbar. Gleichzeitig weicht der Ton niemals von dem Grundthema ab: Dem Schicksal eines Mannes, der, fahrig und unstet, kein bisschen geerdet, auf die Versuchung trifft – und verliert.

“Der Spieler” ist ein autobiographisches Werk, auch Dostojewski selbst war jahrelang spielsüchtig. Aufgrund enorm hoher Schulden ging er einen höchst gefährlichen Deal mit seinem Verleger ein: Wenn er es nicht binnen 26 Tagen schaffe, einen neuen Roman vorzulegen, verliert Dostojewski alle Rechte an seinem Gesamtwerk an den Verleger. Dostojewski stimmte zu. Er heuerte sofort die junge Stenographin Anna G. Snitkina an, um durch das Diktat die Chance zu haben, die Frist einzuhalten. Er hielt sie ein. Und wenig später heiratete er die Stenographin.

Das Comic: “Der Spieler”, von Stephane Miquel & Loic Godart, 2012

Im Mai 2012 erschien im Splitter Verlag die Comicadaption des klassischen Stoffes. Das gebundene Buch besticht beim ersten Anfassen sogleich durch die tolle Verarbeitung und – was mir beim ersten Durchblättern auffiel – durch das besonders schwere Papier. Es ist immer wieder erfreulich zu sehen, dass Comics nach und nach auch bibliophilen Ansprüchen genügen. Weiter so, Splitter!

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Die Adaption durch den Szenaristen Miquel besticht zunächst durch ihre Einfachheit: Der Vorlage wird die Treue gehalten, sofern es um das Kerngeschehen geht; Nebenkriegsschauplätze und Szenen des Grundwerks, die die Geschichte nicht direkt vorantreiben, wurden weitgehend ausgespart. Das könnte Puristen ärgern; ich denke, dass es in einer grafischen Literaturadaption nicht darauf ankommt, dutzende Seiten umfassende innere Monologe darzustellen. Das geht im Medium Bild viel komprimierter: Die Atmosphäre, die ein Prosatext über viele Seiten aufbaut, kann ein einziger Blick des Protagonisten widerspiegeln.

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Zumal, wenn es sich um so fantastische Zeichnungen handelt wie die von Godart. Der Stil des Zeichners wirkte auf mich gleich sehr angenehm und ruhig und das auf eine Weise, die ich vorher noch nicht gesehen habe: Die Figuren sind minimal überzeichnet, satirische oder inhaltlich berührende Szene sind mit Zurückhaltung aufs Wesentliche reduziert, was ihre Wirkung nur noch erhöht. Der Stil mäandriert stets zwischen einem Hauch Realismus und einem Hauch Cartoonhaftigkeit und bewirkt damit eine ganz eigene visuelle Leseerfahrung.

Das einzige Manko ist jedoch die Koloration: Mit Godarts Farben verbindet mich eine Hassliebe. Ich liebe Pastelltöne aufgrund ihres Facettenreichtums, und genau das ist es, was man grafisch braucht, um Dostojewski gerecht zu werden: Facettenreichtum, Details, Differenzierungen. All das schafft Godart zeichnerisch und über weite Strecken auch farblich. Leider übernimmt er sich gelegentlich, wenn beispielsweise ganze Seitenfolgen in Sepiatönen gehalten sind, ohne dass dies inhaltlichen Widerhall finden würde oder ästhetisch nötig wäre. Die Panelaufteilung ist solide, aber konservativ, ebenso wie das Lettering – hier hätten sich Szenarist und Zeichner vielleicht noch ein wenig mehr trauen können.

Das Ende hingegen wandeln Miquel und Godart in einer Weise ab, die ich auch für das Buch erwartet hätte: Die Tragik wird noch einmal gesteigert, das Schicksal des einen Menschen wird mit dem des anderen noch intensiver verbunden. Das gelingt hervorragend.

Insgesamt ist “Der Spieler” eine sehr lesenswerte Literaturadaption und definitiv ein Muss für alle Dostojewskifreunde oder klassikerverliebte Comicneulinge.