Gastrezension: “Befruchte mich!”

Kann man seine engen Freunde mit seinen Leidenschaften infizieren?

Man kann es versuchen. Genau das tat ich – bereits kurz nachdem Tilman von 54books und meine Wenigkeit unsere gemeinsame Liebe zur Literatur entdeckt haben, konfrontierte ich ihn mit einer besonderen Spielart dieser Liebe: Der Leidenschaft für sequenzielle Kunst, oder, profaner ausdrückt: Für Comics. Kurz darauf erst verlachend, dann akzeptierend, dann interessiert war Tilmans Reaktion. Natürlich nötigte ich ihn alsbald, ein Comic meiner Wahl zu lesen. Ich empfahl ihm “Daytripper”, und den Rest kann man unten in der ersten Gastrezension dieses Blogs lesen.

Befruchte mich!

Eine gewisse geistige Wendigkeit traue ich mir eigentlich zu und doch blieben und bleiben mir doch viele Dinge verschlossen, weil ich mich nicht darauf eingelassen habe/einlasse. Tobi von texteundbilder, mein Kollege bei Buchguerilla, ermuntert mich nun schon seit wir uns letztes Jahr kennengelernt haben doch endlich eine “Graphic Novel” zu lesen, nein gestritten haben wir uns bereits, weil ich den “Comic” nicht als literarische Gattung anerkennen wollte und immer wieder treibt er mich an mir doch endlich ein solches (ich ziehe während des Schreibens den Kopf ein) “Heftchen” zu lesen. Zu allem Überfluss ist jetzt auch noch mein kleiner Bruder infiziert und stößt in dasselbe Horn. Vorwürfe habe ich genug gehört und will auch nicht ignorant sein, meine Aufgeschlossenheit unter Beweis stellen, Tobi und Moritz vielleicht auch ein bisschen einen Gefallen tun und möglicherweise am Ende sagen: Nein Freunde, das ist keine Literatur, das sind Bildchen – mit Buff-Bäm-Peng-Quetsch-Sprechblasen.

1054568-prv3844_cov_superAuf Tobis nachdrückliche Empfehlung habe ich nun “Daytripper” von Gabriel Bá und Fábio Moon gelesen. Die Hauptperson Brás arbeitet bei einem Lokalblatt und verfasst dort Nachrufe, während sein Vater ein berühmter und gefeierter Schriftsteller ist. Als er zu einer Gala, die zu Ehren eben diesen Vaters veranstaltet wird, unterwegs ist und in einer Bar einkehrt, werden der Barkeeper und Brás bei einem Raubüberfall erschossen. Geschichte zu Ende?! Doch im nächsten Kapitel taucht wieder ein Brás auf, der bei der Geburt seines Sohnes zugegen ist, während in demselben Krankenhaus sein Vater stirbt. Dann ein Brás, der sich in eine junge Frau verliebt oder zum ersten Mal seinen besten Freund trifft. Die einzelnen Geschichten finden nicht chronologisch statt, so dass der beste Freund Jorge teilweise auftritt bevor er Brás “offiziell” kennenlernt, sein Vater lebt, mal ist er schon lange tot, in einer Geschichte liegt dieser erst kurz zurück. Das Kuriosum: Am Ende jedes Lebenskapitels Brás’ stirbt dieser.

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Am Anfang habe ich etwas gebraucht um durch die Zeiten, die Personen und die einzelnen Abschnitte der Geschichten durchzusteigen, doch ist man erst einmal eingelesen und versteht den Aufbau, lässt einen Daytripper nicht mehr los. Von der Anordnung der Panels, der Kunst des Zeichners und anderen Comicspezifika habe ich leider zu wenig Ahnung um diese konkret zu beschreiben oder gar kritisieren zu können, aber die Verwicklungen der Geschichte und die gesamte Struktur des Erzählens sind wunderschön und berührend. Innerhalb der verschiedenen Leben Brás’ werden fast alle (Grund-)Themen des Lebens besprochen: Familie, Leben, Freundschaft, Liebe, Geburt, Tod und Trennung. Und nach der Lektüre, die ich in einem Zug abgeschlossen habe, ist man kurz konsterniert, berührt, nachdenklich und muss für sich sein. Ein bewegendes, ein erschütterndes, aber auch ein lebensbejahendes und wunderschönes BUCH. Die Verbindung von Texten und Bildern führt dazu, dass sich eine ganz andere Stimmung entwickeln kann als nur durch Beschreibungen – die ich natürlich auch in Zukunft nicht missen möchte – Autor und Zeichner können eben genau die Szenerie entwickeln und vorgeben, die sie im Sinne hatten. Natürlich nimmt das so etwas von der eigenen Interpretationsmöglichkeit, aber man fühlt sich dem Autoren sogar noch etwas mehr verbunden, denn er lässt den Leser nicht nur an seinen Gedanken, sondern auch an seinen Bildern dazu teilhaben. Das hier ist kein Heftchen, sondern Literatur!

Ich kann jedem Graphic Novel-Einsteiger, aber natürlich auch dem Kenner diese wunderbare Geschichte nur ans Herz legen und versichere, dass es nicht meine letzte Neuland-Erfahrung in diesem Gebiet war und ich in Zukunft für die Empfehlungen anderer empfänglicher sein werde: Befruchtet mich!”

Reisereportage in Wasserfarben

Der Nahostkonflikt im Comic – ein weites Feld, um mit Theodor Fontane zu sprechen. Neben Klassikern des Reportagecomics wie Joe Saccos “Palästina” oder Maximilien Le Roys “Die Mauer” hat sich nun auch die US-amerikanische Künstlerin Sarah Glidden dem Thema angenommen. Entstanden ist das wunderschöne autobiographische Comic “How to understand Israel in 60 days or less”. Ein Werk, das schon länger auf meiner Liste stand und das ich vor einiger Zeit regelrecht verschlungen habe.

how to understand israel

Sarah Glidden ist eine in New York lebende Jüdin, stamm aber aus einer Familie, die Religion nicht allzu stark praktiziert. Dennoch entscheidet sich Sarah für die Teilnahme an einer sogenannten Birthright-Tour: Bei diesen Touren handelt es sich um vom Staat Israel und privaten Spendern finanzierte Reisen durch Israel, die allen jungen Juden im nichtisraelischen Ausland offenstehen. Dahinter steht der Gedanke, dass jeder Jude aufgrund seines Rechts, jederzeit in Israel zu leben (“Law of Return”), sein Mutterland besser kennenlernen sollte.

Klingt nach Propaganda? Ist es auch, jedenfalls zum Teil. So dachte auch Sarah, die jederzeit eine höchst kritische Einstellung zu Israel hat, die man objektiv in den USA als kritische Jüdin, hier vielleicht sogar voreilig als antisemitisch bezeichnen würde. Jedenfalls begibt sich Sarah mit einer Freundin auf die Birthright-Tour und schwört sich, die Situation in Israel und den Konflikt mit den Palästinensern möglichst objektiv und auf jeden Fall unabgelenkt von scheinbar propagandistischen Äußerungen der israelischen Reiseleiter aufzunehmen.

Ob ihr das gelingt und ob Sarah ihre kritische Einstellung gegenüber der israelischen Politik ändert, sollte jeder selbst lesen. Und das lohnt sich: Mir hat “How to understand Israel in 60 days or less” großen Spaß gemacht.

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Dafür sind vor allem die Erzählstruktur und die Bilder von Gliddens Erstlingswerk verantwortlich. Der Blick ist immer persönlich, immer aus Sarahs Perspektive geführt, auf fast jeder Seite kommt Sarah vor – der Leser fühlt sich somit an die Hand genommen und man beginnt eine Ahnung davon zu bekommen, wie verwirrt die gute Frau sein muss, im Wirrwarr des allgegenwärtigen Konflikts ihre fragile Objektivität zu wahren.

Die äußere strenge der rein auf Sarah fixierten Erzählstruktur spiegelt sich zum einen auch in den Panels wider: Diese sind vorwiegend in einem klassischen 3×3-Muster gehalten, das nur äußerst selten gebrochen wird. Zum anderen jedoch schafft Glidden durch ihre Bilder einen fantastischen Kontrast: “How to understand Israel” ist ein Comic in Wasserfarben. Ja, richtig. Ich habe dergleichen noch nicht oft gesehen und nirgendwo so konsequent wie bei Sarah Glidden.

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Die Farben sind bunt, aber nicht schreiend, die Hintergründe trotz teilweise gröberer Pinsel detailreich. Licht und Schatten sind hervorragend umgesetzt, was sich mit dem Licht und den Schatten, also mit den notwendigen feinen Differenzierungen, die zum Verständnis des Nahostkonflikts erforderlich sind, bestens deckt.

Der Leser erfährt en passant auf eine farbenfrohe Art und Weise die dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Israelis und Palästinenser. Dieser Kontrast wirkt massiv, ja schizophren. Und so ergeht es auch der Protagonistin.

Ein hervorragender Comic – mein unbedingter Lesebefehl!

Neuzugänge im Februar

In den letzten Wochen konnte ich wieder einige Neuzugänge verzeichnen, die dieses Mal endlich wieder recht comiclastig ausfallen. Die meisten der neuen Schätze sind Hardcoverausgaben, sodass sich vor allem auch das Auge freut. Dieses Mal kulminiert die Beschreibung der Werke in jeweils nur einem Wort. Denn in der Kürze liegt…ihr wisst schon. Wortneuschöpfungen, oder – wie der Wannabe-Intellektuelle sagt – Neologismen nicht ausgeschlossen.

1. Art Spiegelman – METAMAUS

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Dekonstruierend.

2. Neil Gaiman – DEATH Deluxe Edition

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Emonarrativ.

3. Silvain Ricard, Maél / Franz Kafka – In der Strafkolonie

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Kontrastreich.

4. Thomas Klugkist – 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann

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Erhebend.

5. Isabel Kreitz / Erich Kästner – Emil und die Detektive

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Freundinwunsch.

6. H. G. Wells – 5 Great Science-Fiction Novels

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Vorauseilend.

7. Gabriel Ba, Fabio Moon – Daytripper

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Berührend.