Doppelrezension: Kleists Michael Kohlhaas in Text und Bild

Bei dem Namen “Heinrich von Kleist” zucken viele unvermittelt zusammen. Das liegt vor allem daran, dass es Heerscharen von Deutschlehrern schaffen, die Lektüre von Kleists Hauptwerk “Der zerbrochne Krug” für noch größere Heerscharen von Schülerinnen und Schülern durch uninspirierten Unterricht zu verderben. Dass Kleist neben seinen Dramen nicht zuletzt auch für seine Novellen bekannt ist, bleibt da häufig auf der Strecke.

Tatsächlich war meine persönliche schulinduzierte Kleist-Abneigung so nachhaltig, dass ich mich erst jetzt dazu durchringen konnte, mit der Lektüre einer Kleist-Novelle eine weitere Bildungslücke in meiner Leserbiographie zu schließen.

Kleist-Novellen

Die Wahl fiel auf den Michael Kohlhaas. Zum einen, weil diese Novelle zum Sinnieren über Recht und Gerechtigkeit inspiriert – Themen, mit denen ich bereits von Berufs wegen zu tun haben muss / darf –, zum anderen, weil letztes Jahr eine Kohlhaas-Verfilmung mit dem von mir hochgeschätzten Mads Mikkelsen erschien.

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“Im Westen nichts Neues”: Ist das noch ein Comic? Eickmeyers mutige Adaption des Klassikers

“Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich. Ich glaube, wir sind verloren.”

Ich hätt’s so gern verrissen

Zu gerne hätte ich mal wieder einen gepflegten Verriss geschrieben. Mir juckte es bereits in den Fingern. Tatsächlich habe ich mir vor der Lektüre der Graphic Novel zu Erich Maria Remarques KlassikerIm Westen nichts Neues”, die vor kurzem bei Splitter erschien, vorgenommen, besonders hart mit der Adaption ins Gericht zu gehen. Ich schätze den Stoff so sehr, dass eine jede Adaption wirklich gelungen sein muss, um meine Zustimmung zu finden. Zum einen, da “Im Westen nichts Neues” einer der wirkmächtigsten Antikriegstexte der deutschen Sprache überhaupt ist. Zum anderen, da der Autor Remarque und ich mit dem schönen Osnabrück die Heimatstadt teilen.

Tja, von Verriss kann keine Rede sein. Mit seinem Comic ist Peter Eickmeyer ein großer Wurf gelungen.

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Format zwischen den Welten

Die Handlung dürfte vielen Literaturfreunden wohlbekannt sein: Der 19jährige Paul Bäumer meldet sich in der Frühphase des 1. Weltkriegs mit drei Klassenkameraden freiwillig zum Kriegsdienst. In der Folgezeit durchlebt der anfänglich von der allseitigen Euphorie angesteckte Protagonist Bäumer inmitten des Stellungskrieges an der Westfront ein psychisches und körperliches Martyrium, das ihn, kaum erwachsen geworden, auf allen Ebenen seelisch, charakterlich und physisch zerstört.

So eingängig und wertvoll der Ursprungstext ist, so lohnend erscheint mir hier die Betrachtung der Form. Wie wurde die über 85 Jahre alte Quelle in ein Comic (oder von mir aus auch eine “Graphic Novel”) verwandelt?

Eickmeyer gestaltete die Zeichnungen und die Kolorierung; seine Frau Gaby von Borstel bearbeitete den remarqueschen Ausgangstext. Die Art und Weise, wie sie das taten, lässt dabei den geneigten Comicleser zunächst einmal stocken. Auf den ersten Blick gibt es nur gelegentlich eine Panelstruktur. Sprechblasen sucht man im gesamten Werk vergebens. Vielmehr kann “Im Westen nichts Neues” voreilig als illustrierter Roman beschrieben werden.

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Und dann auch noch als ein illustrierter Roman, dessen Text im Vergleich zum Original stark gekürzt wurde. Dabei beschränkt sich von Borstel auf das Wesentliche. Im Vergleich zum Original erhalten die Szenen im Schützengraben hier einen noch größeren Raum. Das steigert, sicherlich ganz bewusst, noch einmal die Drastik der Adaption.

Doch wie verhält es sich mit der optischen Gestaltung?
Auch bei Twitter habe ich Stimmen vernommen, die Kritik an der Umsetzung üben. Ist das noch ein Comic? Tatsächlich ging auch mein Ersteindruck in genau die selbe Richtung. Doch drängt sich andererseits zum einen die Frage auf, was an einem illustrierten Roman so schlimm ist. Zugegeben, es hätte in diesem Fall nicht unbedingt “Graphic Novel” auf dem Cover stehen müssen. Zum anderen jedoch ist Eickmeyers “Im Westen nichts Neues” meiner Meinung nach durchaus formal ein Comic (und damit auch eine GraNo) – und zwar eine mutige, progressive Comicadaption dazu.

Tatsächlich setzt Eickmeyer eine sequenzielle Panelstruktur nur zurückhaltend ein. Dies erscheint jedoch in anderem Licht, wenn man die zunächst als Hintergründe gegebenen, großflächigen Bilder, auf denen der Text schwebt, als Splashpanels begreift. So gesehen, hat jede einzelne Seite des Werks durchaus eine sequenzielle Bildfolge.

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Auch wenn keine Sprechblasen vorkommen, setzen Eickmeyer und von Borstel gelegentlich durchaus die direkte Rede ein und heben diese auch deutlich vom Rest ab. Zwar geschieht dies im Comic nur einige wenige Male – immer entsteht dadurch jedoch jeweils ein atmosphärisches Zitat, das pars pro toto die aktuelle Sequenz inhaltlich stützt.

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Eickmeyers Kunst ist subtil da, wo sie es sein muss, und roh, intensiv, drastisch da, wo dieser Antikriegstext es verlangt. Vor allem die stets passgenaue Mimik der Personen ist gelungen, ebenso sind die teils mehr, teils weniger versteckten grafischen Zitate – von Picassos Guernica bis zu Frank Hurleys Fotografie – gelungen.

Lohnende Lektüre

Eickmeyers Übertragung des Klassikers in ein anderes Medium ist allein aufgrund der oben genannten Abkehr vom zeitweise allzu eingefahrenen Kasten-Sprechblase-Kasten-Denken aller Ehren wert. Zudem ist die gebundene Ausgabe, wie bei Splitter üblich, hervorragend verarbeitet. Das Hochglanzpapier (was mir immer wichtig ist, auch wenn die weniger bibliophilen Zeitgenossen jetzt die Augen verdrehen) ist eine Spur dicker als sonst häufig. Ein 16 seitiger Anhang, der über Remarques Leben und Werk sowie die Entstehung der Comicadation informiert, weiß ebenfalls zu gefallen.

Bei mir hat sich bereits kurz, nachdem ich die Frage “Ist das noch ein Comic?” für mich bejaht habe, das damalige Gefühl eingestellt, das ich beim ersten Lesen von “Im Westen nichts Neues” vor über 10 Jahren hatte: Eine Mischung aus Ungläubigkeit und Beklemmung. Trotz der Kenntnis des Endes habe ich erneut mit Paul und seinen Kameraden mitgelitten – nur dieses Mal in sequenziellen Bildern.

Ich bin gespannt und froh, dass Eickmeyer und von Borstel bereits an einer weiteren Comicadaption arbeiten. Weiter so!

“Tage am Strand”: Never judge a book by its movie

Vor wenigen Wochen ist Doris Lessing gestorben. Leider flog diese große, alte Dame der Literatur lange Zeit vollständig unter meinem Radar. Dass es tatsächlich ein eBook sein sollte, mit dem ich mich dem Werk Lessings annähere, hätte ich nicht gedacht. Meine Erfahrungen mit der digitalen Leserei habe ich hier verarbeitet. Das Trauma lässt nach…  Hier soll es nun, unabhängig von der Nutzung absonderlicher neuer Techniken, inhaltlich um meinen Eindruck von Lessings “Tage am Strand” gehen. Da “Tage am Strand” aktuell im Kino läuft, bietet sich der Vergleich mit dem Film an.

Das Buch

“Tage am Strand” ist der deutsche Titel der Erzählung “The Grandmothers”, die 2004 erschien. Das eBook habe ich von Hoffmann und Campe bezogen, bei der die meisten Werke Lessings auf deutscher Sprache erschienen sind.

Die Geschichte handelt von zwei besten Freundinnen, Lillian und Rozeanne, deren Leben von der Schulzeit an parallel verläuft: Beide sind hübsch, beide sind in dem, was sie tun, erfolgreich, beide heiraten, beide bekommen einen Sohn, und all das geschieht jeweils fast gleichzeitig. Die Geschichte erzählt das Leben der beiden Protagonistinnen in einer kurzen Rückblende zu Beginn des Buches, legt den Fokus aber dann auf die eigentliche “unerhörte Begebenheit”: Nämlich darauf, dass die Frauen, als ihre Söhne gerade dabei sind, erwachsen zu werden und sich der Volljährigkeit nähern, eine Liebesbeziehung mit dem Sohn der jeweils anderen beginnen. Weitere Details dazu und zum Fortlauf der Geschichte werde ich nicht verraten, aber dass diese generationenübergreifende “Vierecks-Beziehung” krachend scheitert, dürfte klar sein. Alles andere wäre Kitsch, aber dazu unten mehr.

“Leichtfüßig” ist das Wort, das mir als erstes einfiel, als ich über den Stil Lessings nachdachte. Leichtfüßig ist die Geschichte geschrieben, heiter und dennoch stets ironisch-lakonisch. Der Text kennt keinen Kitsch: Zwar ist die Geschichte mit all den Parallelen im Leben der beiden “Grandmothers” recht konstruiert, aber nicht unrealistisch. Lessing beschreibt ironisch, wie einfach es die Frauen und ihre Söhne haben: Es handelt sich um zwei wohlhabende Familien, die die meiste Zeit am Strand verbringen. Wahre Probleme gibt es in dieser sonnengefluteten Welt schöner älter werdender weiblicher und scheinbar immer schön bleibender männlicher Körper nicht. Bis die Zeit zuschlägt, und das mit einer gehörigen Wucht, die das Buch allemal lesenswert macht.

Ich weiß nicht, ob “Tage am Strand” typisch ist für das Werk Lessings, aber als leicht zugänglicher Einstieg in ihre Literatur ist es passend. Mir hat die Geschichte gefallen, wenngleich sie recht stark von all dem abweicht, was ich sonst so lese. Dennoch ist es keine klassische “Frauenliteratur”, es geht nicht primär um die Gedankenwelt der beiden Protagonistinnen, es geht um das Älterwerden, das Die-Zeit-Festhalten-Wollen und um zwei “unerhörte” Liebesbeziehungen. Man liest das dünne Werk in einer guten Stunde durch – und diese Stunde ist ganz sicher nicht verschenkt.

Der Film

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Anne Fontaine hat “Tage am Strand” mit Naomi Watts in der Rolle der Lillian und Robin Wright in der Rolle der Rozeanne verfilmt. Und es ist ihr leider gründlich misslungen.

Die ironischen Untertöne der Buchvorlage, die die scheinbar so perfekte, heile Welt, in der die beiden Frauen leben, karikieren, finden im Film nicht statt. Handwerklich ist der Film vollends solide und die Schauspieler sind jederzeit glaubwürdig. Aber bereits bei den Dialogen fängt es an: Von Kitsch triefende Kurzsentenzen über Herzschmerz und Seelenleid werden der Vorlage nicht gerecht.

Auch die Settings sind leider etwas zu pathetisch gewählt: Die scheinbar perfekte Welt der Damen durch ebenso makellose Landschaften und Wohnräume zu stützen, ist eine gute Idee, aber dann gehört beides auch, wie im Buch, ironisch gebrochen. Alles ist vorhersehbar: Eine Geschichte von zwei älter werdenden Frauen, die sich irgendwann mit dem Sohn der jeweils anderen einlassen, bis es zur Katastrophe kommt. Mehr nicht. Die großen Themen, die die literarische Vorlage streift, werden hier links liegen gelassen. Was bleibt, ist Kitsch.

Schade, das wird Frau Lessing nicht gerecht. Und wiedermal hat sich bestätigt: Never judge a book by its movie.

PS:
Wie es der „Zufall“ so will, hat der Herr Winterling von 54books vor kurzem exakt das gleiche Buch gelesen und den gleichen Film gesehen – und auch noch darüber geschrieben!