Alex Quick: 99 Gratisideen für ein besseres Leben

Im Frühjahr 2014 ist der Atlantik-Verlag in See gestochen. Das im maritimen Setting gehaltene Imprint von Hoffman und Campe schaffte es sogleich, die Herzen vieler Buchblogger mit einem kleinen Kennenlernpaket zu erfreuen:

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Die Jungfernfahrt eines neuen Verlags (belassen wir es mal bei der Illusion, es handele sich um einen eigenen Verlag) zu beobachten, ist spannend. Das Wichtigste dabei ist natürlich das Programm, mit dem der Neuling der Buchbranche in den Kampf zieht. Also schnappte ich mir sogleich den Atlantik-Katalog, denn mir war schnell klar, dass ich zum Start ein Buch besprechen wollte.

Meine Wahl fiel auf Alex Quicks “99 Gratisideen für ein besseres Leben. Vorweg: Ich gehöre nicht, wie viele andere, zu den Ratgeber-Hassern. Es gibt unter der sogenannten Ratgeberliteratur viel Schund, viel seichte oder weniger seichte Küchenpsychologie á la “Wenn Sie unsere einzigartige Denkmethode konsequent einhalten, wird sich Ihr Leben schlagartig komplett verändern”. Es gibt aber auch eine große Zahl an seriösen Sachbüchern, die für bestimmte Themen sensibilisieren und das Leben bereichern. Der Nachteil dieser Bücher ist häufig die schwere Lesbarkeit oder die gähnende Langeweile, die mit der Nacherzählung der 27. psychologischen Studie einhergeht.

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Quicks Werk gehört zu keiner der beiden Kategorien. Schlicht und einfach zählt Quick 99 Möglichkeiten auf, das Leben zu genießen. Dabei wählt er – teils mehr, teils weniger konsequent – vor allem Tätigkeiten, die sofort von jedermann umgesetzt werden können und dazu nichts kosten. Beispiele: “Schauen Sie nach den Sternen!” oder “Schreiben Sie einen Brief an Ihr künftiges Ich!” Das mag trivial klingen. Aber die Wahrheit ist, dass die einfachen, die schönen, die sinnstiftenden Dinge im Leben häufig trivial sind.

Quick verbindet jeden Vorschlag zur simplen Lebensqualitätssteigerung mit einem kurzen erklärenden Text. Dabei werden die Vorschläge immer komplexer und psychologisch durchdachter: Während der erste Vorschlag auf das Sterne-Gucken zielt, empfiehlt Quick später, die Exzentriker des eigenen Wohnviertels zu unterstützen oder Unvollkommenheit und Vergänglichkeit als Ausdruck von Schönheit zu betrachten. Quick geht damit auf leichtfüßige Art ans Eingemachte. Er schafft es, Inhalte und Weisheiten fernöstlicher Denkschulen (“Akzeptieren Sie die ganze Katastrophe”) mit philosophischen Ideen (“Leben Sie die Abgeschiedenheit”) zu verbinden. Dabei erhebt Quick niemals den Zeigefinger, bleibt im sprachlichen Ton immer freundlich-zurückhaltend anstatt oberlehrerhaft. Im Ergebnis stört dann auch überhaupt nicht, dass nicht alle Vorschläge völlig gratis sind. Lohnen werden sie sich allemal.

Meine Lieblingsideen?
”Führen Sie ein Tagebuch – mit nur einem Satz pro Tag!”
”Zeigen Sie aufrichtige Dankbarkeit!”
”Halten Sie die Augen offen, und machen Sie mit!”

Quick erinnert an das, was häufig in Vergessenheit gerät. Das kleine Büchlein liest man mit einem Lächeln an einem Abend durch. Garantiert mit Gewinn: Quicks “99 Ideen” sind ein Kleinod der Lebensfreude.

Kommt ein Buch zum anderen: Mein Lesefluss am Beispiel fünf philosophischer Kurzrezensionen

Books are the quietest and most constant of friends; they are the most accessible and wisest of counsellors, and the most patient of teachers.
– Charles William Eliot

Jeder Lesefreund kennt das: Kommt ein Buch zum anderen. Kein Witz: Ein Buch inspiriert zum Lesen eines anderen, ähnlichen oder auch ganz anderen Buches. Dieses wiederum erweitert den Horizont erneut, weckt neues Interesse da, wo vorher keines war oder legt ein altes, verschüttetes Interesse frei. Dadurch wird wiederum die Lektüre eines weiteren, in irgendeiner Form artverwandten Buches angeregt. Dieses Buch verleitet seinerseits in der Folge wieder zu einem anderen. Und zu noch einem. Und noch einem.

Bei wahren Viellesern – und dazu gehöre ich mangels Zeit leider nicht – ist der Lesefluss ein reißender Strom, der dem Leser Unmengen an Lektüren zufließen lässt. Aber auch bei Personen, die viel, aber nicht besessen lesen, kann der persönliche Lesefluss ein mächtiges Gewässer sein, das dem Leser über Monate hinweg bestimmte Themen vorgibt.

Hiermit möchte ich einen Teil meines persönlichen Leseflusses der letzten Monate nachzeichnen. Der eigene Lesestrom hat natürlich Seitenarme – aber die Hauptlinie sah aus wie folgt:

Die Quelle:
Lew Tolstoi: Für alle Tage – Ein Lebensbuch

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Dieser Lesefluss entsprang zu Anfang nichts anderem als meiner Vorliebe für dicke, gebundene, haptisch und optisch ansprechende Bücher. So ging ich durch Bücher Wenner in Osnabrück und hielt plötzlich zum ersten Mal Tolstois “Für alle Tage” in den Händen. Dabei handelt es sich um einen ewigen Kalender in Buchform: Tolstoi war bestrebt, die Weisheit der Welt und ihrer großen Denker zu konservieren und für die tägliche Lektüre aufzubereiten. So gibt es Tages-, Wochen- und Monatslektüren, die zumeist aus Aphorismen, aber auch aus kurzen Geschichten, Bibelstellen, Anekdoten und Gleichnissen bestehen. An vielen Stellen erreicht Tolstoi das Anstrebte in der Tat: Ich wurde zum Nachdenken angeregt.

Wie führt diese Quelle nun zur ersten Flussbiegung? Ganz einfach: Einige der im Buch vorkommenden Aphorismen stammen von keinem geringeren als Michel de Montaigne. Dies waren die Aphorismen und Anekdoten, die mir am besten gefielen. Also musste eine Montaigne-Biographie her.

Erste Flussbiegung:
Sarah Bakewell: Wie soll ich leben? Oder das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten

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So hat der gute alte Tolstoi mich also zum guten alten Montaigne gebracht. Bakewells Montaigne-Biographie ist mein bisheriger Höhepunkt des Lesejahres. Meine Eindrücke von Montaigne und seinem Leben habe ich bereits in dieser Rezension zu Papier gebracht.

Doch wie führte Montaigne zu der nächsten Flussbiegung? Welchen literarischen Impuls nahm ich aus Bakewells grandioser Biographie mit? Montaigne war ein wirkmächtiger Philosoph, so verwundert es nicht, dass mein Interesse an der Philosophie, das immer präsent, aber etwas länger nicht aktiv war, geweckt wurde. Montaigne war (zunächst) überzeugter Stoiker, also musste etwas zu stoischer Philosophie her.

Zweite Flussbiegung:
William B. Irvine: A Guide to the Good Life – The Ancient Art of Stoic Joy

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Es gibt nur sehr wenig Einsteigerliteratur zur hellenistischen Philosophie. Zwar gibt es Unmengen an Textsammlungen von Seneca, Marc Aurel, Epiktet sowie auch Epikur und anderen. Im speziell stoisch-philosophischen Bereich – ich wollte ja Montaigne nachfolgen – wurde im WWW vor allem Irvines “A Guide to the Good Life” angepriesen. Gesagt, getan, gekauft, gelesen.

Irvine, Philosophie-Prof aus den USA, konzentriert sich auf die Ein- und Ansichten von Seneca, Epiktet, Musonius Rufus und Marc Aurel, also vor allem auf die späte Stoa. Wer sich auch nur im Ansatz mit der Philosophie des guten Lebens befasst, kommt um die Stoiker nicht herum. Irvine schafft es, das Kondensat der stoischen Gedankenwelt knapp zusammenzutragen und darüber hinaus für das 21. Jahrhundert lebbar zu machen.

Nach diesem Leseerlebnis wollte ich mehr über die Philosphie der Stoa erfahren. Es musste dazu doch auch eine deutsche Publikation geben. Oder?

Dritte Flussbiegung:
Andreas Urs Sommer: Die Kunst der Seelenruhe – Anleitung zum stoischen Denken

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Eine “Anleitung zum stoischen Denken” verspricht Sommer, ebenfalls Philosophie-Prof. Deutschsprachige Publikationen zur stoischen Philosophie gibt es nur sehr wenige, soweit es sich um Einsteigerlektüren handelt. Ich hatte gehofft, mit dem Sommer eine Art deutsches Pendant zum oben besprochenen Irvine zu finden. Leider Fehlanzeige: Sommer schreibt nicht die versprochene Anleitung, sondern ein hochartifizielles Werk, das eine Menge Vorwissen voraussetzt und sich nicht einmal bemüht, die Grundlagen der stoischen Ethik aufzuzeigen, sondern direkt mit der Aktualisierung der antiken Lehre startet, ohne die Hintergründe auszuloten. Stattdessen gibt es bei Sommer viele religionskritische Exkurse, die auch glänzend begründet sind, sich nur leider nicht gut in den Rest des Buches einfügen.

Man merkt es: Ich war ein wenig enttäuscht. Der Fluss musste eine neue Biegung machen. Hat nicht Montaigne, der immer noch nachhallt, Essays geschrieben? Bin ich nicht an Literatur und Geschichte interessiert? Kurzerhand kam ich zu Kurzke, der all das verbindet.

Vierte Flussbiegung:
Herman Kurzke: Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur – und andere Essays

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Was hat Christa Wolf mit verschimmeltem Brot zu tun? Und wie kommt man von Mangas auf Flaubert?

Herman Kurzke, seines Zeichens Literaturwissenschaftler und Theologe, kennt die Antwort. Das Buch besteht aus fünf Teilen: Zunächst “Kurzkes Kanon”, in dem er seinen persönlichen Reigen an lesenswerter Literatur benennt, danach folgen sein bekanntes Essay “Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur” sowie einige Porträts bekannter oder weniger bekannter Autoren. Dabei macht Kurzke keinen Hehl daraus, dass für ihn Thomas Mann im Zentrum seiner Liebe zur deutschen Literatur steht. Den vierten Teil bilden persönliche Essays, die nicht einem bestimmten Werk oder Schriftsteller gewidmet sind. Dazu gehört das lesenswerte Kleinod “Die Bibliothek als Lebensspiegel und Seelenraum”, mit dem sich Kurzke als Bibliophilen ausweist. Schließlich heißt der letzte Teil “Vermischtes”, wo es um so unterschiedliche Themen geht wie Kirchenlieder, Märchen und Psychoanalyse.

Wenngleich Kurzkes Essays mir eine Tonlage zu konservativ anmuten, sind sie doch in jedem Falle lehrreich – sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Das einzige große Manko ist meiner Meinung nach, dass Kafka gänzlich fehlt.

Und jetzt?
Die vierte Flussbiegung ist nicht die letzte. Die literaturhistorische Essaysammlung von Kurzke hat mich, wie sollte es im Lesefluss anders sein, zu meinem nächsten Buch (zumindest dieses Flussabschnitts) angeregt: “Paare, Passanten” von Botho Strauß. Strauß’ Sammlung von Kurzprosa und Fragmenten hebt Kurzke sogar noch über Böll und Grass.

Da muss etwas dran da. Das könnte eine Perle sein, die man entdecken könnte. Ein Schatz, den es zu heben gilt. Vom Flussbett.

Robert Crumbs “Mister Nostalgia”–Von Country Blues und Comix

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Bereits nach wenigen Seiten der Lektüre von Robert Crumbs “Mister Nostalgia” hatte ich das Bedürfnis, meinem Ärger Luft zu machen. Ärger darüber, dass ich nicht viel früher zu Sachen von Herrn Crumb gegriffen habe. Deshalb obiger Tweet. Klar, letztes Jahr habe ich eine Kafka-Biographie gelesen und besprochen, die von Herrn Crumb illustriert wurde. Aber dabei handelte es sich um eine Kooperation, nicht um ein originäres Werk von Crumb selbst, dem Altmeister der Underground-Comix.

Nun also “Mister Nostalgia”. In all meiner Unbedarftheit, was Underground-Comix im Allgemeinen und Crumb im Besonderen angeht, habe ich mich für “Mister Nostalgia” vor allem aufgrund der bibliophilen Gestaltung des Buches entschieden. Die neuen Crumb-Werke bei Reprodukt sind allesamt großformatig in Halbleinen gebunden, bestechen durch dickes Papier und viele liebevolle kleine Illustrationen zwischen den eigentlichen Geschichten.

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Wie gesagt hat es dann jedoch nicht lange gedauert, bis mich der ureigene, verschrobene, seltsam packende Charme des Herrn Crumb einfing. Dabei ist das Thema von “Mister Nostalgia” alles andere als mein Steckenpferd: Es geht um Musik, genauer gesagt um alten Country Blues aus den Südstaaten der USA, um Plattensammler, Grammophone und Auftritte in schummerigen Blues-Spelunken. Ich höre gerne und oft Musik, auch Blues, aber ich bin da bei weitem nicht bewandert – hier sollte man sich an Tilman von 54music 54books wenden.

Allerdings schaffte Crumb es schon in der ersten Geschichte mit dem Namen “So ist das Leben” mich zu überraschen – indem er den Protagonisten, direkt, nachdem die Geschichte gerade anfing…aber lassen wir das, ich will keine Spoiler verbreiten. Crumbs lakonischer und (zumindest hier) zurückhaltend zynischer Stil, gepaart mit seinem Humor, ergibt eine wunderbare Mischung, die nicht nur Leser mit einem special interest in Blues- und Jazzgeschichte packen dürfte.

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In einer anderen Geschichte erzählt Crumb davon, wie er selbst (aus den massiven autobiographischen Bezügen wird, wie wohl häufig bei Crumb, keinerlei Hehl gemacht) auf die Jagd nach alten Schallplatten geht und stets auf der Suche ist nach einem neuen alten Meisterstück, einem verbogenen Schatz. Das erinnert an die persönliche Bücherjagd und macht Crumb höchst sympathisch.

Zu Crumbs Stil gibt es nur eins zu sagen: Im Comicbereich gibt es einige Künstler (steigender Anzahl, wie es mir scheint), die einen derart individuellen Stil haben, dass man sie immer und überall aus Dutzenden anderer Zeichner herausheben kann. Crumbs schraffurlastiger, schmutziger, unrein-dynamischer Schwarzweis-Stil sucht Seinesgleichen: Als Vorreiter der Underground-Comix hat er in der Radikalität seiner Zeichnungen Pionierarbeit geleistet. Die dicken Beine der Rubensfrauen, die stets maßlos übertriebene Mimik – man muss Crumbs Eigenwilligkeiten einfach lieben. Oder zumindest künstlerisch wertschätzen.

“Mister Nostalgia” ist eine gelungene Sammlung von kurzen Geschichten, Porträts und anderen Skizzen, die trotz des scheinbaren Gegensatzes von Country Blues und U-Comix aus einem Guss daherkommt.

Es ist schön, wenn sich neue Welten öffnen. Crumb hat mir das Tor zur Welt des Comic-Undergrounds ein großes Stück weit aufgerissen.
Danke!