Reisereportage in Wasserfarben

Der Nahostkonflikt im Comic – ein weites Feld, um mit Theodor Fontane zu sprechen. Neben Klassikern des Reportagecomics wie Joe Saccos “Palästina” oder Maximilien Le Roys “Die Mauer” hat sich nun auch die US-amerikanische Künstlerin Sarah Glidden dem Thema angenommen. Entstanden ist das wunderschöne autobiographische Comic “How to understand Israel in 60 days or less”. Ein Werk, das schon länger auf meiner Liste stand und das ich vor einiger Zeit regelrecht verschlungen habe.

how to understand israel

Sarah Glidden ist eine in New York lebende Jüdin, stamm aber aus einer Familie, die Religion nicht allzu stark praktiziert. Dennoch entscheidet sich Sarah für die Teilnahme an einer sogenannten Birthright-Tour: Bei diesen Touren handelt es sich um vom Staat Israel und privaten Spendern finanzierte Reisen durch Israel, die allen jungen Juden im nichtisraelischen Ausland offenstehen. Dahinter steht der Gedanke, dass jeder Jude aufgrund seines Rechts, jederzeit in Israel zu leben (“Law of Return”), sein Mutterland besser kennenlernen sollte.

Klingt nach Propaganda? Ist es auch, jedenfalls zum Teil. So dachte auch Sarah, die jederzeit eine höchst kritische Einstellung zu Israel hat, die man objektiv in den USA als kritische Jüdin, hier vielleicht sogar voreilig als antisemitisch bezeichnen würde. Jedenfalls begibt sich Sarah mit einer Freundin auf die Birthright-Tour und schwört sich, die Situation in Israel und den Konflikt mit den Palästinensern möglichst objektiv und auf jeden Fall unabgelenkt von scheinbar propagandistischen Äußerungen der israelischen Reiseleiter aufzunehmen.

Ob ihr das gelingt und ob Sarah ihre kritische Einstellung gegenüber der israelischen Politik ändert, sollte jeder selbst lesen. Und das lohnt sich: Mir hat “How to understand Israel in 60 days or less” großen Spaß gemacht.

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Dafür sind vor allem die Erzählstruktur und die Bilder von Gliddens Erstlingswerk verantwortlich. Der Blick ist immer persönlich, immer aus Sarahs Perspektive geführt, auf fast jeder Seite kommt Sarah vor – der Leser fühlt sich somit an die Hand genommen und man beginnt eine Ahnung davon zu bekommen, wie verwirrt die gute Frau sein muss, im Wirrwarr des allgegenwärtigen Konflikts ihre fragile Objektivität zu wahren.

Die äußere strenge der rein auf Sarah fixierten Erzählstruktur spiegelt sich zum einen auch in den Panels wider: Diese sind vorwiegend in einem klassischen 3×3-Muster gehalten, das nur äußerst selten gebrochen wird. Zum anderen jedoch schafft Glidden durch ihre Bilder einen fantastischen Kontrast: “How to understand Israel” ist ein Comic in Wasserfarben. Ja, richtig. Ich habe dergleichen noch nicht oft gesehen und nirgendwo so konsequent wie bei Sarah Glidden.

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Die Farben sind bunt, aber nicht schreiend, die Hintergründe trotz teilweise gröberer Pinsel detailreich. Licht und Schatten sind hervorragend umgesetzt, was sich mit dem Licht und den Schatten, also mit den notwendigen feinen Differenzierungen, die zum Verständnis des Nahostkonflikts erforderlich sind, bestens deckt.

Der Leser erfährt en passant auf eine farbenfrohe Art und Weise die dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Israelis und Palästinenser. Dieser Kontrast wirkt massiv, ja schizophren. Und so ergeht es auch der Protagonistin.

Ein hervorragender Comic – mein unbedingter Lesebefehl!

Kafkas “In der Strafkolonie” in Wort und Bild

Immer auf der Suche nach weiteren Klassikern, die mit Liebe zum Medium Comic gleichsam graphic-novellisiert wurden, stieß ich schon vor einiger Zeit auf Kafkas “In der Strafkolonie”, eine Erzählung, die dieser Meister der Absonderlichkeit während der Arbeit an seinem Romanfragment “Der Proceß” wie nebenbei zu Papier brachte.

Die Novelle: “In der Strafkolonie” von 1919

“Es ist ein eigentümlicher Apparat” – so beginnt der Text, und eigentümlich ist nicht nur der beschriebene Folterapparat, sondern auch die Erzählung an sich. Dabei ist, wie häufig bei Kafka, die reine Handlung schnell erzählt: Ein namenloser Reisender besucht eine Strafkolonie, in der ihm ein – wie alle anderen Personen der Novelle – ebenfalls namenloser Offizier eine Maschine vorstellt, mit der ein menschenunwürdiges Strafverfahren durchgeführt wird, bei dem der Konstrukteur, der alte Kommandant der Strafkolonie, und der Offizier, der nunmehr als Richter tätig ist, nach dem Grundsatz vorgehen: “Die Schuld ist immer zweifellos“. Ein Verurteilter steht bei den Erklärungen des Offiziers bereit, durch den Apparat exekutiert zu werden, wenngleich er sein Urteil noch nicht kennt und auch, dem Grundsatz folgend, keine Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. Die Maschine selbst ist eine Art überdimensionierter, vielfedriger Stift, der das verhängte Urteil in Form eines einfachen Leitsatzes (zum Beispiel “Ehre deinen Vorgesetzten”) so lange mit spitzer Nadel auf den Rücken des Verurteilten tätowiert, bis dieser schließlich den Verstand verliert und verblutet.

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In der Folge entspinnt sich ein Dialog zwischen dem Reisenden, einer Art Rechtsgelehrtem, der die verschiedenen Strafverfahren auf der Welt untersucht, und dem Offizier, der von dem Apparat und dessen Funktionsweise schwärmt. Am Ende trifft der Offizier eine folgenschwangere Entscheidung.

“In der Strafkolonie” hat mich ratlos zurückgelassen, aber genau das erwartet man bei Kafka ja auch. Ich habe schon in der Schule aufgehört, den Anspruch zu pflegen, Kafkas Texte befriedigend interpretieren zu können. Gerade “In der Strafkolonie” ist aufgrund der völligen Unkenntnis über Zeit, Raum und Hintergrund des Geschehens ein höchst surreales Werk, das man meiner Meinung nach nur zurückhaltend rational, aber dafür umso intensiver emotional erfahren sollte. Und Emotionen ruft dieses kleine Werk durchaus hervor: Bei einer Lesung Kafkas in München, bei der er seine “Strafkolonie” vortrug, sollen aufgrund der expliziten Gewaltdarstellung gleich mehrere Frauen in Ohnmacht gefallen sein.

Ohnmächtig ist auch der Reisende in der Erzählung ob der schreienden Ungerechtigkeit des Tötungsapparats, der die alte Ordnung unter dem verblichenen vormaligen Kommandanten der Strafkolonie symbolisiert. Übertragen auf die Nachkriegszeit, so viel latente Interpretation sei mir gestattet, ist “In der Strafkolonie” auch lesbar als Abrechnung mit den letzten Ausläufern eines überkommenen Unrechtssystems, als angewiderter Nekrolog bei der Beerdigung der alten, würdelosen Ordnung. Der begründeten Hoffnung auf einen besseren Neubeginn, die dabei aufkommt, nimmt Kafka sofort allen Wind aus den Segeln, wie das prophetische Ende der Geschichte bezeugt. Aber das gilt es selbst zu lesen.

Eingefleischte Kafkajünger werden die “Strafkolonie” sicher aufgesogen haben, aber auch zurückhaltenden Kafkalesern wie mir, die sich nur dann und wann in gleichsam verträglichen homöopathischen Dosen mit dem tragischen Dichter befassen, kann ich “In der Strafkolonie” nur empfehlen. Müsste ich drei Kafkatexte nennen, die man gelesen haben sollte, so gehört neben der obligatorischen “Heimkehr” und dem von mir geschätzten “Landarzt” auch die “Strafkolonie” dazu.

Das Comic: Ricards und Maëls Adaption von 2007

Wer Kafka in irgendein anderes Medium transportieren will, verfügt entweder über eine ganz gehörige Portion Selbstvertrauen, oder aber ist so ausnehmend gescheit, zu verstehen, dass jede Kafkaadaption scheitern muss und dass gerade deshalb alles erlaubt ist.

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2007 erschien der Versuch von Sylvain Ricard und Maël, die eigentümliche Novelle grafisch einzuhegen, bei Knesebeck. Dieser Versuch ist ambitioniert umgesetzt, aber er überzeugt nur teilweise.

Szenarist und Zeichner bleiben dem Werk dabei in zweierlei Hinsicht treu: Inhaltlich werden keine eigenständigen Akzente gesetzt und Panelstruktur wie Zeichnungen sind klar und streng aufgebaut, ebenso konstruiert wie Kafkas Vorlage. Da das surreale Werk vor allem von Dialogen lebt und sonst nur wenig Handlung aufweist, waren die beiden Comicschaffenden darauf angewiesen, die speziellen kommunikativen Nuancen, die sich im Kontrast Offizier vs. Reisender abspielen, auf der Bildebene herauszuarbeiten. Dies sind die stärksten Stellen des Buches, wenn die Zeichnung des Gesichts des Reisenden auf einen Blick vermittelt, dass er sich noch zurückhält, aber die grausame Foltermaschine bereits verachtet. Hier bedient sich der Zeichner einer Art umgekehrter “Ligne Claire”: Ausdifferenzierte Charakterdarstellungen finden vor einfarbigen, sepiaähnlichen Hintergründen statt. Die Figuren schweben dadurch teilweise gleichsam im Raum, wie die Geschichte selbst. All das passt, all das gefällt.

Hätten Ricard und Maël genau diesen Ansatz nicht nur formal, sondern auch inhaltlich weitergeführt, wäre ihnen eine großartige Comicadaption gelungen. Leider verbleibt das Werk so beim gehobenen Durchschnitt. Gerne hätte ich, wenn auch nur angedeutet, nebulös, eben kafkaesk, mehr über den Offizier, die Kolonie und den Reisenden erfahren. Wo findet all das statt? Wann spielt es? Diese Fragen, die Kafka nicht nur offenlässt, sondern nicht mal anspricht, in Ansätzen anzusprechen oder gar zu beantworten ist keine Schande.

Es ist keine Majestätsbeleidigung, die eingetretenen Pfade des Originals zu verlassen, dieses zu verfremden, weiterzuführen, umzuinterpretieren und neu zu denken. Leider trauen sich all zu viele Comics genau das noch nicht, leider sind sich viele Comicschaffende der unendlichen Freiheit, die das Medium bietet, noch nicht bewusst. Aber das Medium ist jung und erlebt, wie es scheint, gerade erst seine Blüte.

Es wird viel passieren. Ich habe da begründete Hoffnung.