Bibliothek der geretteten Bücher

Nach meinem Aufruf, für die nahende Buchapokalypse jeweils drei Bücher zu retten, um diese der lesenden Nachwelt zu erhalten, hat sich in den Weiten des literaturaffinen Netzes so manches getan. Eine wachsende Schar Blogger baut mit an der bibliophilen Arche, die die Lesekultur für die Postapokalypse rettet.

Hier die bisherigen Buchretter und die Werke, die den Flammen des Armageddon entrissen wurden:

Sätze&Schätze:

1. Natürlich nochmals Brecht, die gesammelten Gedichte. Als Anleitung zur Humanität auch nach der Apokalypse.

2. Die Bibel. Ebenfalls als Anleitung und Ratgeber und als wundersames Stück Literatur.

3. Und aus praktischen Gründen: Das seit zwei Generationen in meiner Familie überlieferte Kochbuch.

 

Notizhefte:

1. Homer, Illias (deutsch von Johann Heinrich Voß)
Singe den Zorn, o Göttin: ein mythischer, kraftvoller, schrecklicher, wunderbarer Text, der eine hochentwickelte Mündlichkeitskultur bewahrt.

2. Thomas Mann, Der Zauberberg
Ein grandioser, sprachmächtiger Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts, über Bücher und Musik, Liebe, Philosophie, Fortschritt und Tod.

3. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Ein Buch? Kleiner Trick, aber aus bester Absicht. Erneut ein Text zum Immer-wieder-lesen, ein echter Lebensbegleiter.

 

54books:

1. Heimito von Doderer – Die Strudlhofstiege
Ein Buch, das für die einsame Insel taugt, taugt erst recht für die Zeit nach dem Knall, dann lese ich es auch endlich zu Ende!

2. Joseph Conrad – Herz der Finsternis
Apocalypse now! Großartiges Buch, starker Sog, scheinbar unendliche Tiefe.

3. Charles Dickens – David Copperfield
Damit die Post-Apocalyse lernt wie hochklassig Unterhaltungsliteratur sein kann.

 

Kaffeehaussitzer:

1. Seven Regener, Herr Lehmann
Weil die letzten beiden Sätze dieses Buches für mich die Lebensweisheit schlechthin enthalten und mir schon in vielen Situationen geholfen haben.

2. Lew Tolstoi, Krieg und Frieden
Weil ich dieses Buch in jeder der letzten drei Lebensdekaden einmal gelesen habe und das gerne fortführen würde. Jedes Mal ist es anders.

3. James Joyce, Ulysses
Weil ich dieses Buch immer noch nicht kenne und nach der Apokalypse vielleicht endlich einmal Zeit habe, mich mit ihm zu beschäftigen.

 

Analog-Lesen:

1. Joseph Roth – Hiob
Ein wichtiges Buch in meinem Leben, das mich auch ein Stück weit zu dem gemacht hat, der ich heute bin. Das ist Grund genug.

2. Michael Ende – Die unendliche Geschichte
Ein Buch über die Macht der Fantasie. Und Fantasie wird es nach der Apokalypse mehr als alles andere brauchen.

3. Friedrich Dürrenmatt – Die Physiker
Genie und Wahnsinn sind zwei Seiten der selben Medaille!? Und Fortschritt ist auch der Weg auf das Ende zu. Darum Dürrenmatt.

 

Literatourismus:

1. Max Goldt – Der Krapfen auf dem Sims
Max Goldt ist eine Koryphäe, sprachlich, inhaltlich, thematisch. Um zu beweisen, zu welch sprachlicher Rafinesse der Mensch fähig war, ist Max Goldt unerlässlich.

2. Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein
Wir haben ja per se ein schlechtes Gedächtnis, was negative Erlebnisse anbelangt. Wie man auch nach der Apokalypse wieder unglücklich sein kann, zeigt dieses Standardwerk.

3. Michael Ende – Momo
Damit sie nicht wieder denselben Fehler mit den grauen Herren machen.

 

Buzz Aldrin:

1. James Salter – Lichtjahre
Weil es ein Meisterwerk der amerikanischen Literatur ist: prosaisch, poetisch und an keiner Stelle ein Wort zu viel.

2. Richard Yates – Zeiten des Aufruhrs
Wenn man die Vorstädte Amerikas entdecken möchte, dann hier, bei Richard Yates. Großartige Beschreibungen, tolle Charaktere und sehr düster.

3. Stephen Chbosky – Vielleicht lieber morgen
Vielleicht kein literarisches Meisterwerk, aber ein ganz persönlicher Meilenstein, da dies Buch Startschuss meiner Karriere als Leser war.

 

Buchpost
…die sich die nachvollziehbare Freiheit nahm, gleich fünf Bücher zu retten.

1. Zunächst ein echtes Schwergewicht: Die Bibel. Aus menschlichen und literarischen Gründen.

2. Ein noch dringend zu druckender Wälzer, nämlich ein Band, der alle, alle Fotografien vonSteve McCurry vereint. Natürlich in vorzüglicher Qualität. Dann sehen wir, was Schönheit bedeutet hat.

3. Das Gesamtwerk von Shakespeare. Hilfreich wäre allerdings, wenn auch ein Shakespeare-Kenner den Untergang der Bücher überlebt. Hin und wieder hätte ich dann doch’ne Frage.

4. Aber, falls ein anderer den Shakespeare einpackt, dann den Großen Conrady oder die von Reich-Ranicki herausgegebene Lyriksammlung. Immer nur Brecht wäre doch auch schade.

5. Ich weiß, maximal drei Titel sollte man nennen. Aber man darf nicht so kleinlich sein, ich finde, es fehlt noch ein Liebesroman. Da wird’s dann schwierig: Anna Karenina oder doch lieber Wuthering Heights von Emily Bronte?

 

Das Graue Sofa:

1. Uwe Johnson: Jahrestage (und zwar nicht in meiner vierbändigen, sondern in der auch verfügbaren einbändigen Ausgabe! Werde ich mir für den Fall der Fälle auf jeden Fall noch besorgen und an promineter Stelle zum schnellen Einpacken bereit halten 🙂 ), weil hier die Erinnerung an die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen von über 50 Jahren lebendig bleibt.

2. Max Frisch: Gesammelte Werke, Bd 4, auch wegen Homo faber, weil so die Erinnerung an mythos und logos sowie ihr Wirken erhalten bleibt.

3. Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht, weil hier nachzulesen ist, dass es sich auch in apokalyptischen Zeiten lohnt zu kämpfen.´

 

Joachim (jot_el):

1. Geoffrey Chaucer: The Canterbury Tales
2. Victor Hugo: Die Elenden
3. Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh

Begründung:
Alle Bücher spiegeln zentrale Themen ihrer Entstehung wieder: Chaucer das Weltbild des ausgehenden Mittelalters, Hugo die sozialen Umbrüche im frühen 19. Jahrhunderts, Werfel schließlich die ideologisierten Fanatismen des 20. Jahrhunderts.

 

Und der Vollständigkeit halber
Texte und Bilder:

1. Stefan Zweig – Die Welt von Gestern
Die Nachwelt braucht ein Buch, das die Zivilisation beschreibt und gleichzeitig aufzeigt, wie leicht sie aufs Spiel gesetzt werden kann.

2. George Orwell – 1984
Die Nachwelt braucht ein Buch, das den Wert der Freiheit zu schätzen lehrt.

3. Art Spiegelman – MAUS
Die Nachwelt braucht ein Comic. Das Medium darf nicht untergehen. MAUS verbindet dabei die Inhalte der beiden oben genannten Bücher.

 

Vielen Dank an alle Buchretter! Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen. Falls doch: Bitte sprecht mich an!

Eines dürfte klar sein: Das reicht bei weitem noch nicht für den Wiederaufbau der Lesekultur in der neuen Zivilisation. Kennt ihr noch andere Blogger oder einfach leidenschaftliche Leser, die ihre drei rettungswürdigen Bücher benennen wollen?

Die Gefahr ist noch nicht gebannt! Die Arche hat noch Platz.

ReadingUlysses #3: Was für ein Buch!

Abschließende Besprechung und Fazit

“Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei.”

So beginnt James Joyces Monumentalepos “Ulysses”. Vor ziemlich genau vier Monaten begann ich die Lektüre dieses Buches und nun, nach einigen Höhen und Tiefen, großen und kleinen Lesepausen und genau 1078 Seiten später habe ich es abgeschlossen, beendet, ausgelesen, Dublin final verlassen. Im Folgenden möchte ich meine Leseeindrücke darstellen und dazu ermutigen, Joyces Ulysses selbst zu lesen. Dabei werde ich versuchen, mich möglichst stark von literaturprofessoralen Sentenzen, die ich irgendwo gelesen habe, zu lösen und einfach meine Meinung über das Buch wiederzugeben. Wohl wissend, dass jede kürzere Beschreibung des “Ulysses” scheitern muss.

Das Buch hallt nach. Nichts anderes würde man von einem “Meisterwerk” erwarten, und erst Recht der “größte Roman des 20. Jahrhunderts” sollte nachhallende Wirkung beim Leser auslösen. Sind diese Attribute jedoch gerechtfertigt? Ist Ulysses wirklich so großartig, wie ach so viele Literaturkenner behaupten?

Alles auf Anfang

Von vorne: Was, verdammt nochmal, ist Ulysses? Ein Ungetüm, ein literarisches Monster, aber mit einem guten Herzen, mit einem lohnenden Kern, eine Bestie, die einem zu Diensten ist, wenn man sie zähmt. Aber nur dann. Ulysses ist ein Roman, geschrieben vom irischen Schriftsteller James Joyce, der an nur einem Tag spielt, nämlich ganz zufälligerweise am Bloomsday, also dem 16. Juni 1904. Der Roman handelt, leicht verkürzt, davon, wie zwei Personen durch Dublin irren, sich abends in einem Puff treffen und dann bei einem von beiden tief in der Nacht noch einen Kakao trinken.

Vielmehr möchte ich zum Inhalt nicht sagen – jeder soll es selbst lesen. Zudem spielt der Inhalt im Ulysses keine große Rolle, irgendwo habe ich gelesen, es handele sich bei dem Buch um eine “plotless story”. Dem kann ich nur bedingt zustimmen, da durchaus etwas passiert – einer der beiden Protagonisten, Leopold Bloom, isst, trinkt, wandert umher, besucht Museum und Bibliothek, unterhält sich über so ziemlich jedes erdenkliche irdische und nichtirdische Thema, träumt, gerät in Erregung und Angst; vor allem aber marschiert er durch Dublin und wir sind live dabei.

Right inside his mind

Das jedoch sind nur die äußeren Fakten. Das Wesen von Ulysses liegt nicht in dem was passiert, sondern in der Art und Weise, wie die Protagonisten wahrnehmen, was passiert. Durch die Technik des stream of consciousness ist der Leser so dicht dran an den Gedanken und der Gefühlswelt der jeweiligen Person, dass jedwede Vermittlerrolle wegfällt, einen Erzähler gibt es im Ulysses nicht.

Allerdings hat all dies auch Nachteile: Die Irrungen und Wirrungen in den Gehirnen dieser Welt sind komplex, absonderlich, völlig absurd, selten geordnet, höchst intim, bizarr und unverständlich – die Gedanken sind frei. Genau so ist Joyces Sprache: Scheinbar wirr, scheinbar ungeordnet, und dabei doch nur der möglichst großen Annäherung an die sprachliche Abbildung menschlicher Gedankenströme verpflichtet.

Das ist spektakulär. Wer sich wahrhaft auf die Suche macht nach dem, was da eigentlich passiert, wer Ulysses ernst nimmt und die nötige Zeit investiert, der wird definitiv belohnt werden. Jedoch ist es auch dann nicht einfach, das Riesenwerk durchzuackern. Das Wichtigste dürfte die Einhaltung des überall im Zusammenhang mit Ulysses zu lesenden Tipps sein, einfach auch mal ein paar Seiten zu überblättern – das ist hier sicherlich keine Schande. Man muss sich Ulysses zu eigen machen, auf seine ganz eigene Art, irgendwie – und wenn man es von hinten nach vorne liest.

ulyssesfrominside

Sehr hilfereich fand ich die kommentierte Fassung aus dem Suhrkamp-Verlag, herausgegeben und kommentiert von Dirk Vanderbeke et al, Frankfurt 2004. Diese Kommentierung basiert auf der hochgelobten Übersetzung von Hans Wollschläger aus dem Jahre 1975. Im englischsprachigen Original hätte ich nur die Hälfte, in der deutschen Version ohne Kommentare wohl nur zwei Drittel dessen verstanden und mitgenommen, das ich auf deutsch und durch die Kommentierung verstand und mitnahm. Und das sind vielleicht 10% von dem, was im Ulysses steckt.

Was bleibt

Das Ende des Werks setzte dieser ungewöhnlichen Leseerfahrung die Krone auf: Nach vielen sehr humorvollen, absonderlichen Szenen, nach vielen Begegnungen mit allerlei komischen Käuzen im Dublin des Jahres 1904, beschlich mich in den letzten beiden Kapiteln ein Gefühl der Melancholie. Leopold Bloom kehrt spät in der Nacht zurück zu seiner ehebrecherischen Frau Molly, mit der er nur noch das Gerüst einer ehemals glücklichen Ehe führt. Es wird klar, dass die Ereignisse des Tages vom 16.06.1904 nichts Besonderes im Leben von Bloom waren, dass “nur” der Alltag abgebildet wurde – und dass es für Bloom und Molly immer so weiter gehen wird. Bloom kann, anders als der literarische Odysseus, die Freier seiner Frau nicht töten und die Herrschaft über sein Reich wieder an sich reißen. Bloom ist kein Odysseus, Bloom ist ein Weichei, aber ein verdammt liebenswertes. Er träumt sich am Ende in Pläne einer Zukunft herein, die er wohl nicht erreichen wird. Aber er träumt.

Der abschließende innere Monolog der Molly Bloom, der besagten promiskuitiven Dame, bricht noch einmal mit all dem, was wir in den vorigen 17 Kapiteln erfahren haben – und lässt Bloom und dessen Einschätzung seiner Ehe in einem völlig anderen Licht erscheinen.

Alles ist genau so wahr, wie wir es wahrnehmen. Und es ist der Alltag, auf den es ankommt. Es gibt nichts anderes. Was bleibt, ist die Erinnerung an einstmals schöne Tage, an vergangenes Glück. Und die Hoffnung.

Ulysses Lesen? Unbedingt!

Joyces “Ulysses” ist wahrhaft ein fantastisches Buch, in dem eine Komplexität und diffizile Kunstfertigkeit steckt, die mir bei bisher keiner anderen Lektüre untergekommen ist. Es handelt sich hierbei nicht um Kunst um der Kunst willen, um einen, der – auch wenn Joyce es selbst augenzwinkernd so sagte – etwas nur schrieb, um die Literaturkenner zu ärgern. Ulysses ist tatsächlich so gehaltvoll, so qualvoll und so wertvoll wie es heißt. Kein Wort ist verschenkt, aber man muss nach jedem einzelnen greifen.

Greift zu! Ich bin mehr als froh, mit Joyce nach Dublin gereist zu sein.

Reading Ulysses #0

Alles begann im Matheunterricht. Einer Disziplin, die ich wie keine andere zu Schulzeiten gehasst habe. Die meisten Inhalte aus unseren Mathestunden, von der Kurvendiskussion über Integrale bis hin zu den binomischen Formeln habe ich erfolgreich verdrängt. Eines aber blieb in Erinnerung: Das war der Tag, an dem unser Mathelehrer plötzlich eine volle Unterrichtsstunde von James Joyces “Ulysses” sprach. Es war der 16. Juni 2004 und damit der 100. Bloomsday. Seine wenig interessierten Schüler damit zu behelligen war die Art und Weise, auf die unser Mathelehrer die Feierlichkeiten dieses Tages beging.

Ich hörte gebannt zu und verstand nicht einmal die Hälfte. Da ist also dieses Buch von Mr Joyce, das keiner versteht, aber jeder lesen möchte oder behauptet, gelesen zu haben – nach Hemingway also exakt das, was einen echten Klassiker ausmacht.

monroeulysses

Wenn sogar Marilyn Monroe Ulysses liest, soll dieses Unwissen nun ein Ende haben. Diese literarische Bildungslücke gehört geschlossen. Eines der unzugänglichsten Werke der Weltliteratur will erobert werden.

Ich werde Ulysses lesen. Doch ich möchte das nicht allein tun!

Daher rufe ich das Projekt “Reading Ulysses” aus.
Auf Twitter gab es dazu schon ein kleines Vorgeplänkel.

Die Eckdaten des Projekts:

1. Jeder Teilnehmer liest James Joyces Ulysses, auf welcher Sprache er möchte und so schnell oder langsam, wie er will.

2. Jeder Teilnehmer schreibt irgendwann im Laufe des Lesens einen Zwischenstand über die Lektüre. Das kann der Ersteindruck sein, das Gejammer über die Komplexität, das Hochgefühl in der Mitte des Werks oder die Prognosen vor dem Ende.

3. Jeder Teilnehmer schreibt nach der Lektüre (oder nach dem – absolut erlaubten – Abbruch der Lektüre) sein persönliches Fazit oder eine kleine Rezension.

Das war’s, mehr Regeln sind meiner Meinung nach nicht nötig. Für weitere Ideen bin ich jedoch immer offen (schreibt mir).

Alle Texte können gerne hier veröffentlicht werden. Wer selber einen Literaturblog betreibt, kann beim Projekt gerne ebenfalls mitmachen – gegenseitiges Verlinken und Veröffentlichen der Ulysses-Leseerfahrungen ist ausdrücklich erwünscht!

joyce

Mr Joyce und ich würden uns über viele Mitstreiter freuen!