Abschließende Besprechung und Fazit
“Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei.”
So beginnt James Joyces Monumentalepos “Ulysses”. Vor ziemlich genau vier Monaten begann ich die Lektüre dieses Buches und nun, nach einigen Höhen und Tiefen, großen und kleinen Lesepausen und genau 1078 Seiten später habe ich es abgeschlossen, beendet, ausgelesen, Dublin final verlassen. Im Folgenden möchte ich meine Leseeindrücke darstellen und dazu ermutigen, Joyces Ulysses selbst zu lesen. Dabei werde ich versuchen, mich möglichst stark von literaturprofessoralen Sentenzen, die ich irgendwo gelesen habe, zu lösen und einfach meine Meinung über das Buch wiederzugeben. Wohl wissend, dass jede kürzere Beschreibung des “Ulysses” scheitern muss.
Das Buch hallt nach. Nichts anderes würde man von einem “Meisterwerk” erwarten, und erst Recht der “größte Roman des 20. Jahrhunderts” sollte nachhallende Wirkung beim Leser auslösen. Sind diese Attribute jedoch gerechtfertigt? Ist Ulysses wirklich so großartig, wie ach so viele Literaturkenner behaupten?
Alles auf Anfang
Von vorne: Was, verdammt nochmal, ist Ulysses? Ein Ungetüm, ein literarisches Monster, aber mit einem guten Herzen, mit einem lohnenden Kern, eine Bestie, die einem zu Diensten ist, wenn man sie zähmt. Aber nur dann. Ulysses ist ein Roman, geschrieben vom irischen Schriftsteller James Joyce, der an nur einem Tag spielt, nämlich ganz zufälligerweise am Bloomsday, also dem 16. Juni 1904. Der Roman handelt, leicht verkürzt, davon, wie zwei Personen durch Dublin irren, sich abends in einem Puff treffen und dann bei einem von beiden tief in der Nacht noch einen Kakao trinken.
Vielmehr möchte ich zum Inhalt nicht sagen – jeder soll es selbst lesen. Zudem spielt der Inhalt im Ulysses keine große Rolle, irgendwo habe ich gelesen, es handele sich bei dem Buch um eine “plotless story”. Dem kann ich nur bedingt zustimmen, da durchaus etwas passiert – einer der beiden Protagonisten, Leopold Bloom, isst, trinkt, wandert umher, besucht Museum und Bibliothek, unterhält sich über so ziemlich jedes erdenkliche irdische und nichtirdische Thema, träumt, gerät in Erregung und Angst; vor allem aber marschiert er durch Dublin und wir sind live dabei.
Right inside his mind
Das jedoch sind nur die äußeren Fakten. Das Wesen von Ulysses liegt nicht in dem was passiert, sondern in der Art und Weise, wie die Protagonisten wahrnehmen, was passiert. Durch die Technik des stream of consciousness ist der Leser so dicht dran an den Gedanken und der Gefühlswelt der jeweiligen Person, dass jedwede Vermittlerrolle wegfällt, einen Erzähler gibt es im Ulysses nicht.
Allerdings hat all dies auch Nachteile: Die Irrungen und Wirrungen in den Gehirnen dieser Welt sind komplex, absonderlich, völlig absurd, selten geordnet, höchst intim, bizarr und unverständlich – die Gedanken sind frei. Genau so ist Joyces Sprache: Scheinbar wirr, scheinbar ungeordnet, und dabei doch nur der möglichst großen Annäherung an die sprachliche Abbildung menschlicher Gedankenströme verpflichtet.
Das ist spektakulär. Wer sich wahrhaft auf die Suche macht nach dem, was da eigentlich passiert, wer Ulysses ernst nimmt und die nötige Zeit investiert, der wird definitiv belohnt werden. Jedoch ist es auch dann nicht einfach, das Riesenwerk durchzuackern. Das Wichtigste dürfte die Einhaltung des überall im Zusammenhang mit Ulysses zu lesenden Tipps sein, einfach auch mal ein paar Seiten zu überblättern – das ist hier sicherlich keine Schande. Man muss sich Ulysses zu eigen machen, auf seine ganz eigene Art, irgendwie – und wenn man es von hinten nach vorne liest.
Sehr hilfereich fand ich die kommentierte Fassung aus dem Suhrkamp-Verlag, herausgegeben und kommentiert von Dirk Vanderbeke et al, Frankfurt 2004. Diese Kommentierung basiert auf der hochgelobten Übersetzung von Hans Wollschläger aus dem Jahre 1975. Im englischsprachigen Original hätte ich nur die Hälfte, in der deutschen Version ohne Kommentare wohl nur zwei Drittel dessen verstanden und mitgenommen, das ich auf deutsch und durch die Kommentierung verstand und mitnahm. Und das sind vielleicht 10% von dem, was im Ulysses steckt.
Was bleibt
Das Ende des Werks setzte dieser ungewöhnlichen Leseerfahrung die Krone auf: Nach vielen sehr humorvollen, absonderlichen Szenen, nach vielen Begegnungen mit allerlei komischen Käuzen im Dublin des Jahres 1904, beschlich mich in den letzten beiden Kapiteln ein Gefühl der Melancholie. Leopold Bloom kehrt spät in der Nacht zurück zu seiner ehebrecherischen Frau Molly, mit der er nur noch das Gerüst einer ehemals glücklichen Ehe führt. Es wird klar, dass die Ereignisse des Tages vom 16.06.1904 nichts Besonderes im Leben von Bloom waren, dass “nur” der Alltag abgebildet wurde – und dass es für Bloom und Molly immer so weiter gehen wird. Bloom kann, anders als der literarische Odysseus, die Freier seiner Frau nicht töten und die Herrschaft über sein Reich wieder an sich reißen. Bloom ist kein Odysseus, Bloom ist ein Weichei, aber ein verdammt liebenswertes. Er träumt sich am Ende in Pläne einer Zukunft herein, die er wohl nicht erreichen wird. Aber er träumt.
Der abschließende innere Monolog der Molly Bloom, der besagten promiskuitiven Dame, bricht noch einmal mit all dem, was wir in den vorigen 17 Kapiteln erfahren haben – und lässt Bloom und dessen Einschätzung seiner Ehe in einem völlig anderen Licht erscheinen.
Alles ist genau so wahr, wie wir es wahrnehmen. Und es ist der Alltag, auf den es ankommt. Es gibt nichts anderes. Was bleibt, ist die Erinnerung an einstmals schöne Tage, an vergangenes Glück. Und die Hoffnung.
Ulysses Lesen? Unbedingt!
Joyces “Ulysses” ist wahrhaft ein fantastisches Buch, in dem eine Komplexität und diffizile Kunstfertigkeit steckt, die mir bei bisher keiner anderen Lektüre untergekommen ist. Es handelt sich hierbei nicht um Kunst um der Kunst willen, um einen, der – auch wenn Joyce es selbst augenzwinkernd so sagte – etwas nur schrieb, um die Literaturkenner zu ärgern. Ulysses ist tatsächlich so gehaltvoll, so qualvoll und so wertvoll wie es heißt. Kein Wort ist verschenkt, aber man muss nach jedem einzelnen greifen.
Greift zu! Ich bin mehr als froh, mit Joyce nach Dublin gereist zu sein.