Montaigne und die Lebenskunst

“Wie soll ich leben? – Oder das Leben Montaignes in einer Frage und 20 Antworten” – von Sarah Bakewell, C.H. Beck 2013

Was für ein Buch! Was für ein Mensch!

Michel…was? Wer zur Hölle ist das? Ich gebe es zu: Als ich Bakewells Biographie von Michel de Montaigne vor einigen Monaten im Buchladen meines Vertrauens sah, hatte ich keine Ahnung, um wen es sich da handelt, wusste keineswegs, wann der gute Mann gelebt hat und was er überhaupt geschrieben hat. Fasziniert war ich hingegen direkt von dem Konzept des Werkes: Eine Biographie, die eine einzige Frage stellt – “Wie soll ich leben?” – und diese Frage anhand des Lebens von Montaigne in zwanzig verschiedenen Antworten auslotet. Dass hinter diesem Buch mehr als nur die reine Biographie eines Renaissance-Philosophen stecken musste, war mir schnell klar.

Dennoch begann ich die Lektüre zögerlich: Sollte ich wirklich fast 400 Seiten über einen einzelnen Menschen lesen, der vor 500 Jahren lebte? Ich begann, und ich übertreibe nicht: Nach nicht mehr als 31 Seiten hatte Bakewell mich endgültig am Haken. Oder vielmehr Montaigne selbst. Die erste Antwort auf die Leitfrage, die einen kleinen anfänglichen Überblick über Montaignes Leben gibt, lautet: “Habe keine Angst vor dem Tod”. Bereits hier berichtet Bakewell in leichtfüßiger, humorvoller Art davon, welche Ideen und Trick Montaigne sich einfallen ließ, um im Wege einer bewussten Autosuggestion den Widrigkeiten des Lebens zu entkommen. Bereits das erste Kapitel enthält in nuce alles, was das Buch lesenswert macht: Montaignes Lebensfreude, seine philosophische Technik, bei der es sich um eine Art “Best of” aus Stoa, Epikureismus und Skeptizismus handelt, Begeisterungsfähigkeit, Neugier, Liebe, Freundschaft, Verlust und die Heilung des Verlusts durch das Schreiben.

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Wer war Montaigne?

Doch um wen geht es bei dieser Einführung in die Lebenskunst eigentlich? Wer ist es, der dem Leser Ratschläge gibt wie “Lebe den Augenblick!”, “Habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft!”, “Stelle alles in Frage!” oder “Sei gewöhnlich und unvollkommen!”? Montaigne war ein französischer Adeliger aus der Region um Bordeaux, der im Jahre 1533 geboren wurde und damit mitten in die unübersichtlichen Wirren einer Vielzahl kleinerer und größerer französischer Bürgerkriege geriet. Montaigne schaffte es dennoch, trotz dieser Übergangszeit von Spätrenaissance zum Zeitalter der Reformation und der Glaubenskriege, mehr zu werden als ein adeliger Weinbauer: Er war zugleich Jurist, Bürgermeister von Bordeaux, lateinischer Muttersprachler, Stoiker, Skeptiker, Reisender und ganz nebenbei der Begründer der Essayistik. Dadurch wurde er zu einem der meistgelesenen philosophischen Schriftsteller aller Zeiten, der durch seine stets wankelmütige, mäandrierende, stets den Perspektivwechsel suchende Schreibweise Generationen von Lesern fesselte.

Warum das Ganze?

Bakewell schafft es, dem Ganzen noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die über das reine Nacherzählen von Montaignes Leben hinausgeht – was sicherlich allein schon spannend genug wäre. In jeder Beantwortung der Leitfrage springt Bakewell durch die Zeiten. Auf der einen Seite begründet sie Montaignes Gedanken an antike Philosophen und Schriftsteller. Auf der anderen Seite aktualisiert sie Montaignes Gedanken, in dem sie gleichzeitig die Rezeption von Montaignes Schaffen durch die Jahrhunderte mitliefert. So treten als Vorbilder Montaignes unter anderem Seneca, Epikur und Plutarch auf, als Kritiker René Descartes und Blaise Pascal, als von Montaigne begeisterte Leser so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Rousseau, Diderot, Friedrich Nietzsche und Stefan Zweig.

All das ist spektakulär und fesselnd (obwohl das Buch einen schreiend rosa Einband hat): Bakewell entwirft ein Panorama des guten Lebens, ein Fest der Lebenskunst, indem sie Montaigne in den Mittelpunkt stellt und seine von Lebensfreude, Selbstbehauptung und Begeisterungsfähigkeit geprägte Denkweise in diversen Kontexten und mit Hilfe dutzender historischer Personen auf unser heutiges Leben bezieht.

So entsteht tatsächlich eine Anleitung zum guten Leben, die dazu höchst lesenswert ist. Jeder muss die Frage “Wie soll ich leben?” für sich selbst beantworten, jeden Tag aufs Neue. Aber Bakewells zwanzig Antworten, destilliert aus der gedanklichen Essenz eines großartigen zeitlosen Philosophen, sind beileibe keine schlechte Richtschnur.

Warum ich lese

Warum ich lese?

Ich lese, um Neues zu entdecken.
Ich lese, um alte Freunde wiederzusehen.
Ich lese, um zu fliehen.
Ich lese, um heimzukommen.
Ich lese, um zu entspannen.
Ich lese, um gespannt zu sein.

Ich lese, um andere Menschen zu verstehen.
Ich lese, um mich zu verstehen.

Ich lese nicht, um zu beeindrucken.
Ich lese nicht, um etwas abzuhaken.
Jedenfalls nur manchmal.
Ich lese nicht, um Empfehlungen abzuarbeiten.
Ich lese nichts, was alle lesen, nur weil es alle lesen.

Ich lese, weil Bücher Zeitmaschinen sind.
Ich lese, weil Bücher Guillotinen sind.
Und Arzneien.

Ich lese, weil ich mehr Facetten will.
Ich lese, um eingelullt zu werden.
Ich lese, um angespornt zu werden.
Ich lese, weil ich Perspektivwechsel liebe.
Ich lese, weil ich bestätigt werden will.
Ich lese, um meine Erwartungen zu brechen.

Ich lese, um zu lesen. Um zu leben.
Ich lese, weil es nicht anders geht.

Shelfies – Bibliophile Innenansichten

Sag mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist.

Was Ellen Degeneres in hollywoodesquer Selbstdarstellung kann, können Buchbesitzer, die mit einer Kamera ausgestattet sind, schon lange. Shelfies statt Selfies – hier ein kleiner Einblick in meine Bücherregale, neudeutsch Bookshelfs, garantiert ohne Twitter-Rekord, dafür mit mehr Büchern:

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Bücher über Bücher, zum Beispiel das leichtfüßige “Literatur!”. Drapiert auf der hier verdeckten “Mobilen Buchablage” aus der Manufaktur side by side. Gedacht für die Handbibliothek – da ich so etwas nicht habe, ruhen die Bücher dort nun dauerhaft. Jedenfalls bis zum nächsten Umräumen.

 

 

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Einige unsortierte Klassiker (hauptsächlich Mann, Lenz, Dürrenmatt), ein bisschen Philosophie (u.a. Weischedels Hintertreppe) und gelegentlich ein paar versprenkelte zeitgenössische Sachen (Blasmusikpop von Vea Kaiser, Krechels Landgericht).

 

 

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Nochmal ein Ausschnitt aus dem Klassiker-Regal, wie (leider) immer bei mir völlig unsortiert. Rilkes Werke reihen sich an Böll, der wiederum – über eine illustrierte Literaturgeschichte – Bekanntschaft mit Tolstoi macht; dieser haust neben einigen Werken von Zweig. Daneben überragt der Ulysses alle anderen. Zumindest, was das Format angeht.

 

 

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Comics die Erste. Auch hier warten noch einige Schätze darauf, gehoben zu werden. Vor allem der dreibändige “Graphic Canon” ist ein solches Juwel. Großes erhoffe ich mir auch von den beiden Eisner-Werken “Life in the Big City” und “New York”. An “A Contract with God” werden sie aber wohl nicht heranreichen. Natürlich sind auch bei den Comics einige Nieten dabei (zB “Das Buch der Offenbarung”). Aber wenn Watchmen, V for Vendetta und Quai d’Orsay im Regal stehen, wiegt die Qualität die Nieten allemal auf.

 

 

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Comics die Zweite. Hier drängt sich geballter Lesegenuss auf kleinem Raum. Die immer wieder grandios absurden “Manhattan Projects” teilen sich den Platz mit thematisch völlig anderen Werken wie Kvernelands Künstlerbiographie “Munch”. Doxiadis’ “Logicomix” und Taniguchis “Von der Natur des Menschen” warten noch darauf, gelesen zu werden. Das bisher stärkste Werk aus diesem Ausschnitt ist aber wohl Lemires berührende Heimatgeschichte “Essex County”.