Das Universum des Joann Sfar: „Vampir“ und „Aspirine“

Irgendwann habe ich gesagt, dass ich auf diesem Blog niemals „Vampire-Romance“ besprechen werde – zu eintönig die Geschichten, zu abgedreht das Setting, zu sehr Massenware, zu langweilig, einfach nicht mein Ding. Nun tue ich es doch. Joann Sfars „Vampir“-Kosmos ist genau das: Ein Konglomerat an Liebesgeschichten über einen Vampir. Aber nicht so, wie der geneigte Stephenie-Meyer-Leser jetzt denkt.

vampircover

Continue reading

Expressionistische Sequenzen–Chagall in Russland

Leider hatte ich Zeit meines Schülerlebens nur schlechte Kunstlehrer und Kunstlehrerinnen. Es ist somit nicht allzu viel Wissen zu Künstlern und Kunstgeschichte hängen geblieben. Ein Umstand, den ich heute sehr schade finde. Glücklicherweise bieten Künstlerbiographien in Comicform die Möglichkeit, die eine Leidenschaft mit dem anderen, wachsenden Interesse zu verbinden. So kam es, dass ich nach dem starken “Munch” ein anderes Werk aus dem avant-Verlag las, das ebenfalls vordergründig eine Künstlerbiographie ist: “Chagall in Russland” aus der Feder des französischen Zeichners und Szenaristen Joann Sfar.

chagallrussia

Joann Sfar ist eine Größe der Comicszene, und nicht nur der frankobelgischen. Er schreibt und zeichnet und malt für jedes Alter: Seinen “Vampir” lieben Kinder, seine Mitarbeit an “Donjon” begeistert Jugendliche und sogenannte “junge Erwachsene” und Arbeiten wie “Klezmer” oder “Die Katze des Rabbiners” erfreuen sich einer erwachsenen Leserschaft. “Die Katze des Rabbiners” habe ich sehr gern gelesen, auch wenn mir der Stil zunächst nicht allzu gut gefiel. Meine persönliche Antipathie gegen allzu Cartoonhaftes wurde dabei aufgrund der exzellenten Erzählung, der grandiosen Dialoge und der vielen philosophischen Inhalte mehr als aufgewogen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei “Chagall in Russland”: Sfar beschreibt einen fast noch jugendlichen, verträumten Marc Chagall, der bereits ein bekannter und aktiver Maler ist, seine Heimat Witebsk im heutigen Weißrussland aber noch nicht gen Paris, ins Mekka der damaligen Kunstszene, verlassen hat. Die Geschichte ist so einfach wie verrückt und verträumt, und damit sowohl zu Sfar als auch zu Chagall passend: Der Künstler liebt ein Mädchen, das die Liebe nicht erwidert und versucht nun, ihr Herz zu gewinnen, indem er ein jüdisches Theater organisiert. Allein aufgrund des Umstands, dass Sfars Chagall dabei von einem grünhäutigen Jesus Christus, einem Pferde und Menschen abschlachtenden Golem und einem kommunistischen Klezmerspieler begleitet wird, zeigt, dass Sfar dann doch keine Biographie verfasst hat: Der hier dargestellte Chagall hat auf der Handlungsebene bis auf die Herkunftsstadt und den jüdischen Kulturkontext nichts gemein mit der historischen Persönlichkeit.

panelschagall

Ist das schlimm? Nein, keinesfalls. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erwartung, eine wahrheitsgetreue Künstlerbiographie zu lesen, gebrochen wird, verspricht “Chagall in Russland” echte Lesefreude. Und dass das Werk etwas völlig anderes und mitnichten historisch bierernst vorgeht, hätte ich mir bereits bei dem Namen des Autors denken können.

Sfar nutzt auch hier seinen stets überzeichnenden, wenig akkuraten, schraffurintensiven, cartoonähnlichen Stil. Doch alles passt hier zusammen: Die Farben sind so intensiv (quietschgrüner Jesus!), dass man nicht umhin kommt, die Parallele zum Expressionismus Chagalls zu sehen, die Emotionen sind so direkt dargestellt, dass der höchst optimistische Charakter Chagalls deutlich zur Geltung kommt. Allein die extrem strenge Panelstruktur von 3×2 Panels pro Seite, die nicht ein einziges Mal gebrochen wird, widerspricht ein wenig dieser Näherung auf der Bild- und Farbebene.

chagallparis

Dennoch lässt sich festhalten: Sfar nähert sich Chagall nicht historisch, sondern emotional. Und diesen emotionalen Näherungsprozess kann der Leser durch die gesamte, turbulent-verrückte Geschichte nachvollziehen.

Das Werk macht insgesamt jede Menge Lust auf mehr. Lust auf mehr von Chagall. Aber auch auf mehr von Sfar.

Munch!

Comicbiographien haben momentan Hochkonjunktur. Alle werden sie in kleine oder große Bildchen gepackt und mit Sprechblasen versehen: Freud, Kafka, Schiele, Castro, Chagall (naja…ein wenig, Joann Sfar halt, dazu demnächst mehr), Wagner, Nietzsche, Thoreau… Natürlich nehme ich diese Entwicklung mit Freude auf und verkünde: Ich will sie alle lesen und rezensieren! Challenge accepted!

Die Biographie ist jedoch ein Genre, das mich zwar immer schon gereizt hat, das allerdings aufgrund verschiedener Aspekte schwer zugänglich ist: Eine Biographie schimmert immer nur durch die Linse des Biographen, eine Autobiographie leidet an der notwendigerweise selektiven Wahrnehmung des sich selbst beschreibenden Schreiberlings. Ein über alle Maßen positives Beispiel der Gattung “Autobiographie” ist Stefan Zweigs “Die Welt von Gestern”. Im Idealfall, und Zweigs Werk stellt meiner Meinung nach diesen Idealfall dar, lernt man bei der Lektüre einer Biographie / Autobiographie nicht nur eine Menge über die beschriebene Person und ihr Leben, sondern auch über die Zeit, in der der Beschriebene lebte, über die Gedankenwelt seiner Zeitgenossen und die damalige Kultur.

Verglichen mit diesem Anspruch waren meine Erwartungen an die Comicbiographie “MUNCH” von Steffen Kverneland gelinde gesagt…beträchtlich.

covermunch

Als ich das Buch auspackte (“Unboxing”, wie es neudeutsch heißt, demnächst mache ich dazu YouTube-Videos…nicht), war ich überrascht: Ich hatte mit einem viel dünneren Werk gerechnet, und zwar mit einem Tradepaperback. Weit gefehlt: “Munch”, erschienen im kleinen, aber höchst feinen und anspruchsvollen avant-Verlag, ist ein 270 Seiten starkes Hardcoverbuch in Übergröße, dessen Verarbeitung hohen bibliophilen Ansprüchen genügt. Es fehlt eigentlich nur noch das Lesebändchen und der Schuber, um mal ein paar Klischees zu bedienen.

Der Landsman des großen norwegischen Expressionisten Edward Munch, Steffen Kverneland, der sich für Idee, Konzept, Text, Zeichnungen, Farben – also für einfach alle Bereiche des Comics – verantwortlich zeichnet (haha, der Zeichner zeichnet sich verantwortlich…), hat mit “Munch” ein hochinteressantes Werk vorgelegt.

Das liegt an sage und schreibe gleich drei Kunstgriffen:

1. Kverneland beschreibt sich selbst während des kreativen Schaffensprozesses bei der Entstehung von “Munch”.
2. Kverneland beschreibt, wie die Meisterwerke Munchs entstehen – und pflanzt diese als von ihm selbst detailliert nachgemalte „Originalbilder“ direkt in die Panels.
3. Kverneland lässt ausschließlich historische Persönlichkeiten in ihren eigenen Worten sprechen – sei es Munch selbst aus seinen Briefen oder seien es Auszüge aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln.

munchpanel

Klingt überladen, klingt zu ambitioniert, klingt nicht umsetzbar. Kann niemand schaffen.

Sicher? Nein, Kverneland hat es geschafft: “Munch” ist nicht nur gut gelungen, es ist Kvernelands Meisterstück. Selten habe ich mich bei der Lektüre der Beschreibung einer Person und ihres Lebens dieser so nahe gefühlt, selten habe ich auf gleich mehreren Ebenen so viel über den Prozess des kreativen Schaffens gelernt.

Traumwandlerisch sicher spielt Kverneland mit Cartoonhaftem, mit Selbstironie, Überzeichnung, Detailtreue, Dialog und Handlung sowie mit der Gedanken- und der physischen Welt: Alles ist verworren und komplex, aber zwielichtig und wunderschön. So wie die Bilder Munchs, so wie seine Seele.

Kvernelands “Munch” ist nicht nur ein Comic. “Munch” ist ein Meilenstein.

Na, können Wagner, Kafka, Thoreau und Co das toppen? Ich bin gespannt, was da noch kommen mag.