Expressionistische Sequenzen–Chagall in Russland

Leider hatte ich Zeit meines Schülerlebens nur schlechte Kunstlehrer und Kunstlehrerinnen. Es ist somit nicht allzu viel Wissen zu Künstlern und Kunstgeschichte hängen geblieben. Ein Umstand, den ich heute sehr schade finde. Glücklicherweise bieten Künstlerbiographien in Comicform die Möglichkeit, die eine Leidenschaft mit dem anderen, wachsenden Interesse zu verbinden. So kam es, dass ich nach dem starken “Munch” ein anderes Werk aus dem avant-Verlag las, das ebenfalls vordergründig eine Künstlerbiographie ist: “Chagall in Russland” aus der Feder des französischen Zeichners und Szenaristen Joann Sfar.

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Joann Sfar ist eine Größe der Comicszene, und nicht nur der frankobelgischen. Er schreibt und zeichnet und malt für jedes Alter: Seinen “Vampir” lieben Kinder, seine Mitarbeit an “Donjon” begeistert Jugendliche und sogenannte “junge Erwachsene” und Arbeiten wie “Klezmer” oder “Die Katze des Rabbiners” erfreuen sich einer erwachsenen Leserschaft. “Die Katze des Rabbiners” habe ich sehr gern gelesen, auch wenn mir der Stil zunächst nicht allzu gut gefiel. Meine persönliche Antipathie gegen allzu Cartoonhaftes wurde dabei aufgrund der exzellenten Erzählung, der grandiosen Dialoge und der vielen philosophischen Inhalte mehr als aufgewogen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei “Chagall in Russland”: Sfar beschreibt einen fast noch jugendlichen, verträumten Marc Chagall, der bereits ein bekannter und aktiver Maler ist, seine Heimat Witebsk im heutigen Weißrussland aber noch nicht gen Paris, ins Mekka der damaligen Kunstszene, verlassen hat. Die Geschichte ist so einfach wie verrückt und verträumt, und damit sowohl zu Sfar als auch zu Chagall passend: Der Künstler liebt ein Mädchen, das die Liebe nicht erwidert und versucht nun, ihr Herz zu gewinnen, indem er ein jüdisches Theater organisiert. Allein aufgrund des Umstands, dass Sfars Chagall dabei von einem grünhäutigen Jesus Christus, einem Pferde und Menschen abschlachtenden Golem und einem kommunistischen Klezmerspieler begleitet wird, zeigt, dass Sfar dann doch keine Biographie verfasst hat: Der hier dargestellte Chagall hat auf der Handlungsebene bis auf die Herkunftsstadt und den jüdischen Kulturkontext nichts gemein mit der historischen Persönlichkeit.

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Ist das schlimm? Nein, keinesfalls. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erwartung, eine wahrheitsgetreue Künstlerbiographie zu lesen, gebrochen wird, verspricht “Chagall in Russland” echte Lesefreude. Und dass das Werk etwas völlig anderes und mitnichten historisch bierernst vorgeht, hätte ich mir bereits bei dem Namen des Autors denken können.

Sfar nutzt auch hier seinen stets überzeichnenden, wenig akkuraten, schraffurintensiven, cartoonähnlichen Stil. Doch alles passt hier zusammen: Die Farben sind so intensiv (quietschgrüner Jesus!), dass man nicht umhin kommt, die Parallele zum Expressionismus Chagalls zu sehen, die Emotionen sind so direkt dargestellt, dass der höchst optimistische Charakter Chagalls deutlich zur Geltung kommt. Allein die extrem strenge Panelstruktur von 3×2 Panels pro Seite, die nicht ein einziges Mal gebrochen wird, widerspricht ein wenig dieser Näherung auf der Bild- und Farbebene.

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Dennoch lässt sich festhalten: Sfar nähert sich Chagall nicht historisch, sondern emotional. Und diesen emotionalen Näherungsprozess kann der Leser durch die gesamte, turbulent-verrückte Geschichte nachvollziehen.

Das Werk macht insgesamt jede Menge Lust auf mehr. Lust auf mehr von Chagall. Aber auch auf mehr von Sfar.