Wie wurde aus einem Kind die Persönlichkeit Franz Kafka? Und wie wurde aus Franz Kafka der weltbekannte Autor?
Kafka lässt mich nicht los, aber als “Kafkologe”, Kafkaforscher oder auch nur begeisterter Kafka-Leser stehe ich noch am Anfang. Auf diesem Blog habe ich bereits über Kafkas Process geschrieben, über die Strafkolonie sowie über die von Robert Crumb gezeichnete Comicbiographie Kafkas. Damit gehört Kafka sicherlich unbestreitbar zu meinen Lieblingsautoren.
Aber kenne ich ihn? Welche Person verbirgt sich hinter dem Namen eines Autors, gedruckt auf das Buchcover, ansonsten aber fremd? Was wissen wir von Kafka?
Dank Reiner Stach wissen wir nun jedenfalls mehr. Reiner Stach zeigt nach über 18jähriger intensiver Recherchearbeit in insgesamt drei Bänden auf beeindruckende Weise, wie sich die moderne Biographik dem Leben einer historischen Persönlichkeit anzunähern vermag. Der jüngste – und in Kafkas Leben chronologisch erste – Band “Die frühen Jahre” erschien im Herbst 2014 bei S. Fischer.
Stachs Arbeitsmethode heißt: Kleinschrittigkeit. Stach erläuterte mehrfach in Interviews, dass er jeden einzelnen Tag aus Kafkas Leben in eine Tabelle eingepflegt hat. Was ist in der Familie Kafka passiert? Was geschah im öffentlichen, im politischen Raum Österreich-Ungarns? Was lief in Prag im Theater?
Die Methode der literarischen Wiedergabe dieser gigantischen biographischen Datenmenge heißt: Filmisches Erzählen. Stach hält sprachlich die Kamera und die Beleuchtung, hält auf den heranwachsenden Franz zu und lässt diesen dabei gewähren. Der Leser kann somit teilhaben am Leben Kafkas, das wiederum eingebettet war in größere Zusammenhänge, ohne die Kafka und seine Literatur nicht verstehbar sind – falls sie überhaupt verstehbar sind. Kafka war Jude, Kafka war Prager, Kafkas Muttersprache war deutsch: Das war eine soziale Gemengelage, die eine enorme Komplexität mit sich brachte. Gleichzeitig war auch die Stadt Prag gespalten: Religiös, sprachlich, kulturell, ethnisch.
Stach beschreibt all diese verschiedenen Facetten der kafkaschen Umwelt und nähert sich damit den Voraussetzungen an, die zu dem Kafka führten, den wir heute kennen (oder nicht kennen). Überraschenderweise und zu meiner großen Freude steht der Vaterkonflikt in dieser Biographie nicht im Mittelpunkt – er ist nur eine von vielen Erscheinungen, eine prägende zwar, aber eine, die die Gefahr des Überschätzens in sich trägt.
Am meisten Lesefreude hatte ich hingegen immer bei den fast exkurshaften Beschreibungen der unterschiedlichen Sphären: der Kokon des eigenen Zimmers, das Biotop Altstädter Gymnasium, das komplexe Binnensystem Universität, die soziale Stellung der Juden, das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen in Prag, das Aufkommen neuer technischer Entwicklungen.
Denis Scheck bezeichnete die ersten beiden Stach-Bände als “Meisterwerk der Biographik”. Dies kann ich auch uneingeschränkt für “Die frühen Jahre” unterschreiben.
Am 24. März ist Stach in Münster. Zu gerne wüsste ich, was er von all den vielen Comicadaptionen der Kafka-Werke hält. Er wird sie sicher kennen. Diese Frage hat Stach noch keiner der mir bekannten Journalisten gestellt. Vielleicht habe ich Glück und Stach gibt mir eine Einschätzung. Allzu feindlich gegenüber graphischem Erzählen kann Kafka selbst übrigens nicht eingestellt gewesen sein, hat er sich doch selbst mit seinen berühmten “Strichmännchen” als Zeichner ausprobiert: