#RettetDieBücher!

Im Rahmen des Best-Blog-Awards von letzter Woche habe ich Birgit von Sätze&Schätze die Frage gestellt:

Wenn du drei Bücher vor der Apokalypse, die alle anderen Bücher auf dem Planeten zerstört, retten könntest – welche wären es?

Mir scheint die Frage geeignet, das Thema noch ein wenig zu beackern. Welche Bücher sind es wert, gerettet zu werden? Welcher Lesestoff muss unbedingt vor der Apokalypse bewahrt werden?

Fällt diese Entscheidung eher persönlich aus oder denkt man dabei wirklich primär an die Nachwelt? Sollte man nicht vor allem praktische Werke für den Wiederaufbau der Zivilisation mit auf den Weg geben – also zum Beispiel naturwissenschaftliche Standardwerke oder das Grundgesetz? Oder muss so eine Frage nicht eher humorvoll angegangen werden – mit der Bewahrung von IKEA-Anleitungen und Telefonbüchern für die Nachwelt?

Die Frage streift ein weites Feld. Und genau so sollte sie verstanden werden: Möglichst frei und weitläufig. Ich stelle mir vor, eine kleine Aktion zu starten, bei der Blogger genau diese Frage beantworten und die drei Bücher nennen, die sie vor dem Untergang retten würden. Danach sind jeweils zwei weitere Blogger – also zwei weitere Buchretter – zu nominieren.

Das Wichtigste dabei ist natürlich das Warum: Warum sind es genau diese drei und nicht andere? Die Entscheidung ist keine leichte. Daher sollte man sich beschränken – sagen wir auf eine Begründung in nicht mehr als 140 Zeichen pro Buch.

Gesagt, getan. Ich mache den Anfang mit folgenden drei Büchern, die ich den Flammen der Apokalypse entreißen würde:

1. Stefan Zweig – Die Welt von Gestern
Die Nachwelt braucht ein Buch, das die Zivilisation beschreibt und gleichzeitig aufzeigt, wie leicht sie aufs Spiel gesetzt werden kann.

2. George Orwell – 1984
Die Nachwelt braucht ein Buch, das den Wert der Freiheit zu schätzen lehrt.

3. Art Spiegelman – MAUS
Die Nachwelt braucht ein Comic. Das Medium darf nicht untergehen. MAUS verbindet dabei die Inhalte der beiden oben genannten Bücher.


Man hätte auch Aberdutzende andere Werke nennen können. Aber genau das werden hoffentlich die nächsten Buchretter machen:

Als Buchretter nominiere ich Norman mit seinem Blog Notizhefte und Tilman von 54books!

Montaigne und die Lebenskunst

“Wie soll ich leben? – Oder das Leben Montaignes in einer Frage und 20 Antworten” – von Sarah Bakewell, C.H. Beck 2013

Was für ein Buch! Was für ein Mensch!

Michel…was? Wer zur Hölle ist das? Ich gebe es zu: Als ich Bakewells Biographie von Michel de Montaigne vor einigen Monaten im Buchladen meines Vertrauens sah, hatte ich keine Ahnung, um wen es sich da handelt, wusste keineswegs, wann der gute Mann gelebt hat und was er überhaupt geschrieben hat. Fasziniert war ich hingegen direkt von dem Konzept des Werkes: Eine Biographie, die eine einzige Frage stellt – “Wie soll ich leben?” – und diese Frage anhand des Lebens von Montaigne in zwanzig verschiedenen Antworten auslotet. Dass hinter diesem Buch mehr als nur die reine Biographie eines Renaissance-Philosophen stecken musste, war mir schnell klar.

Dennoch begann ich die Lektüre zögerlich: Sollte ich wirklich fast 400 Seiten über einen einzelnen Menschen lesen, der vor 500 Jahren lebte? Ich begann, und ich übertreibe nicht: Nach nicht mehr als 31 Seiten hatte Bakewell mich endgültig am Haken. Oder vielmehr Montaigne selbst. Die erste Antwort auf die Leitfrage, die einen kleinen anfänglichen Überblick über Montaignes Leben gibt, lautet: “Habe keine Angst vor dem Tod”. Bereits hier berichtet Bakewell in leichtfüßiger, humorvoller Art davon, welche Ideen und Trick Montaigne sich einfallen ließ, um im Wege einer bewussten Autosuggestion den Widrigkeiten des Lebens zu entkommen. Bereits das erste Kapitel enthält in nuce alles, was das Buch lesenswert macht: Montaignes Lebensfreude, seine philosophische Technik, bei der es sich um eine Art “Best of” aus Stoa, Epikureismus und Skeptizismus handelt, Begeisterungsfähigkeit, Neugier, Liebe, Freundschaft, Verlust und die Heilung des Verlusts durch das Schreiben.

montaignebindung

Wer war Montaigne?

Doch um wen geht es bei dieser Einführung in die Lebenskunst eigentlich? Wer ist es, der dem Leser Ratschläge gibt wie “Lebe den Augenblick!”, “Habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft!”, “Stelle alles in Frage!” oder “Sei gewöhnlich und unvollkommen!”? Montaigne war ein französischer Adeliger aus der Region um Bordeaux, der im Jahre 1533 geboren wurde und damit mitten in die unübersichtlichen Wirren einer Vielzahl kleinerer und größerer französischer Bürgerkriege geriet. Montaigne schaffte es dennoch, trotz dieser Übergangszeit von Spätrenaissance zum Zeitalter der Reformation und der Glaubenskriege, mehr zu werden als ein adeliger Weinbauer: Er war zugleich Jurist, Bürgermeister von Bordeaux, lateinischer Muttersprachler, Stoiker, Skeptiker, Reisender und ganz nebenbei der Begründer der Essayistik. Dadurch wurde er zu einem der meistgelesenen philosophischen Schriftsteller aller Zeiten, der durch seine stets wankelmütige, mäandrierende, stets den Perspektivwechsel suchende Schreibweise Generationen von Lesern fesselte.

Warum das Ganze?

Bakewell schafft es, dem Ganzen noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die über das reine Nacherzählen von Montaignes Leben hinausgeht – was sicherlich allein schon spannend genug wäre. In jeder Beantwortung der Leitfrage springt Bakewell durch die Zeiten. Auf der einen Seite begründet sie Montaignes Gedanken an antike Philosophen und Schriftsteller. Auf der anderen Seite aktualisiert sie Montaignes Gedanken, in dem sie gleichzeitig die Rezeption von Montaignes Schaffen durch die Jahrhunderte mitliefert. So treten als Vorbilder Montaignes unter anderem Seneca, Epikur und Plutarch auf, als Kritiker René Descartes und Blaise Pascal, als von Montaigne begeisterte Leser so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Rousseau, Diderot, Friedrich Nietzsche und Stefan Zweig.

All das ist spektakulär und fesselnd (obwohl das Buch einen schreiend rosa Einband hat): Bakewell entwirft ein Panorama des guten Lebens, ein Fest der Lebenskunst, indem sie Montaigne in den Mittelpunkt stellt und seine von Lebensfreude, Selbstbehauptung und Begeisterungsfähigkeit geprägte Denkweise in diversen Kontexten und mit Hilfe dutzender historischer Personen auf unser heutiges Leben bezieht.

So entsteht tatsächlich eine Anleitung zum guten Leben, die dazu höchst lesenswert ist. Jeder muss die Frage “Wie soll ich leben?” für sich selbst beantworten, jeden Tag aufs Neue. Aber Bakewells zwanzig Antworten, destilliert aus der gedanklichen Essenz eines großartigen zeitlosen Philosophen, sind beileibe keine schlechte Richtschnur.

Nautik und Narzissmen – Comicadation “Der Seewolf”

“Das triumphierende und sadistische Lächeln Larsens entfachte in mir eine unbändige Wut. Im Zwischendeck mit einem Gewehr in der Hand stehend, hörte ich einen Ruf erschallen.”

Abenteuerromane, Western, Seefahrergeschichten – all das war noch nie meine Sache. Robinson Crusoe gefiel mir nicht besonders, Westernfilme schalte ich nach 5 Minuten ab und um Robert Louis Stevensons Schatzinsel schipperte ich geflissentlich drum herum. Freunde wurden nicht müde, mich dezent darauf hinzuweisen, dass mir große Romane der Weltliteratur und viele Stunden an Lesevergnügen entgingen, sollte ich diese Abneigung weiterhin pflegen. Also wählte ich einen Mittelweg und näherte mich dem Abenteuerroman durch das Medium Comic.

Jack London veröffentlichte seinen bekanntesten Roman “Der Seewolf” im Jahre 1904. Letztes Jahr erschien bei SPLITTER die Comicadation des Stoffes durch den französischen Zeichner und Szenaristen Riff Reb’s (ja, der Apostroph muss dahin, warum, erschließt sich mir auch nicht). Wie gewohnt in der hohen SLITTER-Qualität gehalten, fallen bei diesem Comic als Erstes der feste Bucheinband und das Hochglanzpapier auf. Direkt nach dem Start der Lektüre wird jedoch klar, dass Zeichnung und Geschichte weit über eine schöne Fassade hinausgehen.

seewolf

Humphrey Van Weyden, seines Zeichens schöngeistig-intellektueller Literaturkritiker, hauptsächlich jedoch von Beruf Sohn, erleidet bei einer Passage in der Nähe von San Francisco Schiffbruch und wird von dem Robbenschoner “Ghost” aufgenommen. Dort herrscht das diktatorische Regiment des Kapitäns Wolf Larsen, der aufgrund seiner hohen Intelligenz und vor allem aufgrund seiner fast schon unnatürlichen Körperkraft und Ausdauer die Mannschaft in permanente Demütigungen hüllt, wobei er jede sich regende Neigung zur Meuterei im Keim zu ersticken weiß.

Für ein Szenario wie dieses nicht geschaffen, bleibt Van Weyden, von der Schiffsbesatzung schikaniert oder bestenfalls ignoriert, nichts anderes als die Resignation. Bis er schließlich entdeckt, dass Wolf Larsen neben dem wölfischen auch noch ein humanes Element in sich trägt: Das Monster von Kapitän liebt Bücher, Mathematik und philosophische Diskurse. Van Weyden, der idealistische Humanist, schafft es allmählich, den überzeugten Nihilisten Larsen ein Stück weit für sich zu gewinnen. Dann, einige Gewaltexzesse des Kapitäns und einige philosophische Gespräche zwischen Kapitän und Van Weyden später, zieht der Sturm auf, und das eigentliche Drama beginnt.

Ein Comic zu lesen, das auf einer literarischen Vorlage beruht, die ich nicht gelesen habe, ist eine ganz neue Erfahrung: Beim Lesen habe ich permanent gedacht: “Wie hat London das wohl geschrieben? Wo hat Riff Reb’s hier gekürzt?” Auch diese Reihenfolge des Lesens von Adaption und Vorlage hat jedenfalls ihren Reiz. Der Nachteil ist freilich, dass ich das Comic nun isoliert bewerten muss. Und diese Bewertung fällt positiv aus: Riff Reb’s Adaption (ha! Wobei… dieser Text ist auf deutsch, auch so passt dieser Apostroph nicht ins Bild) gibt den Darstellungen des brutalen Lebens an Bord ebenso Raum wie der Seefahrt an sich und wie den philosophischen Gesprächen über Werte und Nichtwerte, über Sinn und Unsinn von Freiheit, Angst und Anpassung, die Larsen und Van Weyden miteinander führen. In welchem Verhältnis diese Elemente allerdings bei London stehen, vermag ich nicht zu sagen. “Der Seewolf” wird häufig als philosophische Geschichte apostrophiert (!), sodass demzufolge der diametral gegensätzliche Gedankenaustausch  von Schöngeist und Seemonster wohl im Ergebnis ein wenig zu kurz kommt.

seewolfpanel

Darüber verhelfen jedoch die wunderbaren Panels hinweg: “Der Seewolf” ist fantastisch gezeichnet, rein vom Zeichenstil her handelt es sich um ein Musterbeispiel der Gattung Comic. Ein Manko jedoch: Fast immer lehne ich Schwarzweißzeichnungen ab, hier – in diesem kolorierten Werk – hätten sie jedoch ausnahmsweise anstelle der Farbgebung gut getan. Denn: Reb’s taucht jedes Kapitel seines Werks in eine andere “Grundfarbe”, von Meeresblau und Sepiatönen über ein galliges Grün bis hin zu einem ausgewaschenen Rosa. Dieser Effekt zieht nicht. Entweder eine normale, differenzierte Koloration oder gar keine – diese bewusste, kapitelweise “Farbeintönigkeit” der Kapitel spiegelt sich in der durchaus gut erzählten Geschichte inhaltlich nicht wieder (wobei das rosa Kapitel ausgerechnet das ist, in dem die einzige Frau der Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, aber das ist wohl eher Zufall…hoffe ich).

“Der Seewolf” ist nun bereits die zweite Adaption, die ich aus der SPLITTER-Reihe “Books” gelesen habe (nach der meiner Meinung nach noch gelungeneren Umsetzung von Dostojewskis Spieler). Auch dieses Werk wusste definitiv zu gefallen…

…und hat sicherlich zur wichtigen Erkenntnis beigetragen: Abenteuergeschichten sind besser als ihr Ruf.