Gar nicht so nette Sonette

Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

1909

So schön kann Melancholie sein.
In Peter Brauns kleiner Literaturgeschichte “Von Taugenichts bis Steppenwolf” habe ich vor einigen Wochen Bekanntschaft mit Georg Trakl gemacht und war fasziniert: Der vor 100 Jahren gestorbene Trakl, der sich im Angesicht der Schlacht von Grodek-Lemberg, wahnsinnig geworden aufgrund der Gräuel des Ersten Weltkriegs, im Drogenrausch das Leben nahm, ist eine tragische Gestalt. Ob seines frühen Drogentodes im Alter von nur 27 Jahren als Insasse einer Nervenheilanstalt gehört Trakl genau wie Hendrix und Cobain zum Club 27, hat sich zwar ähnlicher Drogen, jedoch eines völlig anderen Mediums bedient, um seine Kunst auszuleben: Gedichte waren Trakls Leben, in ihnen verarbeitete er zugleich das Vorgefühl des eigenen Sterbens.

Achtzig Gedichte” von Georg Trakl erschienen 2011 in der von mir geschätzten Textura-Reihe von C.H. Beck.

Es empfiehlt sich, das ungemein erhellende “einführende Nachwort” von Gunther Kleefeld zuerst zu lesen. Kleefeld leistet eine prägnante Einführung in Leben, Schreiben und Sterben Trakls, wobei er die These aufstellt, dass die expressionistische Dichtung Trakls weniger in rationaler Form dem Verstande zugänglich, als vielmehr einem Gesang, einer lyrischen Musik gleich emotional aufgenommen werden sollte.

Kleefeld scheint Recht zu haben: Auch meiner Meinung nach ist Trakls Dichtung von einer besondere Sprachmelodie durchzogen, einer Melodie in Moll. Trakl, der schon in frühster Jugend mit harten Drogen in Kontakt kam und Zeit seines Lebens eine erotische Beziehung zu seiner Schwester pflegte, sah die Welt in dämmernden Blautönen, noch nicht apokalyptisch, aber doch dem allseitigen Verfall nahe. Trakls Dichtung handelt von Umbrüchen, von drohenden Veränderungen zum Schlechten: Sein Thema ist der Herbst, die Zeit des Jahres, in der sich der lichtdurchflutete Sommer dem grauen, kalten Winter zuneigt. Dabei wählt er zumeist (aber nicht nur) die Form des Sonetts, um seine düstere Melancholie zu entwickeln. Hoffnung scheint bei Trakl, zumindest kommt mir dies nach der Lektüre der achtzig Gedichte so vor, so gut wie niemals durch, allerdings ist der pessimistische Grundton von Trakls Lyrik häufig von einer stoischen Melancholie durchzogen, einer Art “Was soll’s, so ist es halt” im Dämmerlicht.

Afra

Ein Kind mit braunem Haar. Gebet und Amen
Verdunkeln still die abendliche Kühle
Und Afras Lächeln rot in gelbem Rahmen
Von Sonnenblumen, Angst und grauer Schwüle.

Gehüllt in blauen Mantel sah vor Zeiten
Der Mönch sie fromm gemalt an Kirchenfenstern;
Das will in Schmerzen freundlich noch geleiten,
Wenn ihre Sterne durch sein Blut gespenstern.

Herbstuntergang; und des Hollunders Schweigen.
Die Stirne rührt des Wassers blaue Regung,
Ein härnes Tuch gelegt auf eine Bahre.

Verfaulte Früchte fallen von den Zweigen;
Unsäglich ist der Vögel Flug, Begegnung
Mit Sterbenden; dem folgen dunkle Jahre.

1913

Das wird nicht jedermanns Sache sein. Wer Lautes, Schrilles, Buntes mag, der lese Stephenie Meyer oder schalte gleich das Dschungelcamp ein. Wer jedoch der Schönheit der Melancholie beizeiten nicht abgeneigt ist, dem sei Trakl, dem seien besonders seine Sonette ans Herz gelegt.

Schöner Nebeneffekt: Egal wie schlecht es einem geht, Trakls Hundeleben war schlimmer. Das ist doch auch was.

Nautik und Narzissmen – Comicadation “Der Seewolf”

“Das triumphierende und sadistische Lächeln Larsens entfachte in mir eine unbändige Wut. Im Zwischendeck mit einem Gewehr in der Hand stehend, hörte ich einen Ruf erschallen.”

Abenteuerromane, Western, Seefahrergeschichten – all das war noch nie meine Sache. Robinson Crusoe gefiel mir nicht besonders, Westernfilme schalte ich nach 5 Minuten ab und um Robert Louis Stevensons Schatzinsel schipperte ich geflissentlich drum herum. Freunde wurden nicht müde, mich dezent darauf hinzuweisen, dass mir große Romane der Weltliteratur und viele Stunden an Lesevergnügen entgingen, sollte ich diese Abneigung weiterhin pflegen. Also wählte ich einen Mittelweg und näherte mich dem Abenteuerroman durch das Medium Comic.

Jack London veröffentlichte seinen bekanntesten Roman “Der Seewolf” im Jahre 1904. Letztes Jahr erschien bei SPLITTER die Comicadation des Stoffes durch den französischen Zeichner und Szenaristen Riff Reb’s (ja, der Apostroph muss dahin, warum, erschließt sich mir auch nicht). Wie gewohnt in der hohen SLITTER-Qualität gehalten, fallen bei diesem Comic als Erstes der feste Bucheinband und das Hochglanzpapier auf. Direkt nach dem Start der Lektüre wird jedoch klar, dass Zeichnung und Geschichte weit über eine schöne Fassade hinausgehen.

seewolf

Humphrey Van Weyden, seines Zeichens schöngeistig-intellektueller Literaturkritiker, hauptsächlich jedoch von Beruf Sohn, erleidet bei einer Passage in der Nähe von San Francisco Schiffbruch und wird von dem Robbenschoner “Ghost” aufgenommen. Dort herrscht das diktatorische Regiment des Kapitäns Wolf Larsen, der aufgrund seiner hohen Intelligenz und vor allem aufgrund seiner fast schon unnatürlichen Körperkraft und Ausdauer die Mannschaft in permanente Demütigungen hüllt, wobei er jede sich regende Neigung zur Meuterei im Keim zu ersticken weiß.

Für ein Szenario wie dieses nicht geschaffen, bleibt Van Weyden, von der Schiffsbesatzung schikaniert oder bestenfalls ignoriert, nichts anderes als die Resignation. Bis er schließlich entdeckt, dass Wolf Larsen neben dem wölfischen auch noch ein humanes Element in sich trägt: Das Monster von Kapitän liebt Bücher, Mathematik und philosophische Diskurse. Van Weyden, der idealistische Humanist, schafft es allmählich, den überzeugten Nihilisten Larsen ein Stück weit für sich zu gewinnen. Dann, einige Gewaltexzesse des Kapitäns und einige philosophische Gespräche zwischen Kapitän und Van Weyden später, zieht der Sturm auf, und das eigentliche Drama beginnt.

Ein Comic zu lesen, das auf einer literarischen Vorlage beruht, die ich nicht gelesen habe, ist eine ganz neue Erfahrung: Beim Lesen habe ich permanent gedacht: “Wie hat London das wohl geschrieben? Wo hat Riff Reb’s hier gekürzt?” Auch diese Reihenfolge des Lesens von Adaption und Vorlage hat jedenfalls ihren Reiz. Der Nachteil ist freilich, dass ich das Comic nun isoliert bewerten muss. Und diese Bewertung fällt positiv aus: Riff Reb’s Adaption (ha! Wobei… dieser Text ist auf deutsch, auch so passt dieser Apostroph nicht ins Bild) gibt den Darstellungen des brutalen Lebens an Bord ebenso Raum wie der Seefahrt an sich und wie den philosophischen Gesprächen über Werte und Nichtwerte, über Sinn und Unsinn von Freiheit, Angst und Anpassung, die Larsen und Van Weyden miteinander führen. In welchem Verhältnis diese Elemente allerdings bei London stehen, vermag ich nicht zu sagen. “Der Seewolf” wird häufig als philosophische Geschichte apostrophiert (!), sodass demzufolge der diametral gegensätzliche Gedankenaustausch  von Schöngeist und Seemonster wohl im Ergebnis ein wenig zu kurz kommt.

seewolfpanel

Darüber verhelfen jedoch die wunderbaren Panels hinweg: “Der Seewolf” ist fantastisch gezeichnet, rein vom Zeichenstil her handelt es sich um ein Musterbeispiel der Gattung Comic. Ein Manko jedoch: Fast immer lehne ich Schwarzweißzeichnungen ab, hier – in diesem kolorierten Werk – hätten sie jedoch ausnahmsweise anstelle der Farbgebung gut getan. Denn: Reb’s taucht jedes Kapitel seines Werks in eine andere “Grundfarbe”, von Meeresblau und Sepiatönen über ein galliges Grün bis hin zu einem ausgewaschenen Rosa. Dieser Effekt zieht nicht. Entweder eine normale, differenzierte Koloration oder gar keine – diese bewusste, kapitelweise “Farbeintönigkeit” der Kapitel spiegelt sich in der durchaus gut erzählten Geschichte inhaltlich nicht wieder (wobei das rosa Kapitel ausgerechnet das ist, in dem die einzige Frau der Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, aber das ist wohl eher Zufall…hoffe ich).

“Der Seewolf” ist nun bereits die zweite Adaption, die ich aus der SPLITTER-Reihe “Books” gelesen habe (nach der meiner Meinung nach noch gelungeneren Umsetzung von Dostojewskis Spieler). Auch dieses Werk wusste definitiv zu gefallen…

…und hat sicherlich zur wichtigen Erkenntnis beigetragen: Abenteuergeschichten sind besser als ihr Ruf.

Reading Ulysses #0

Alles begann im Matheunterricht. Einer Disziplin, die ich wie keine andere zu Schulzeiten gehasst habe. Die meisten Inhalte aus unseren Mathestunden, von der Kurvendiskussion über Integrale bis hin zu den binomischen Formeln habe ich erfolgreich verdrängt. Eines aber blieb in Erinnerung: Das war der Tag, an dem unser Mathelehrer plötzlich eine volle Unterrichtsstunde von James Joyces “Ulysses” sprach. Es war der 16. Juni 2004 und damit der 100. Bloomsday. Seine wenig interessierten Schüler damit zu behelligen war die Art und Weise, auf die unser Mathelehrer die Feierlichkeiten dieses Tages beging.

Ich hörte gebannt zu und verstand nicht einmal die Hälfte. Da ist also dieses Buch von Mr Joyce, das keiner versteht, aber jeder lesen möchte oder behauptet, gelesen zu haben – nach Hemingway also exakt das, was einen echten Klassiker ausmacht.

monroeulysses

Wenn sogar Marilyn Monroe Ulysses liest, soll dieses Unwissen nun ein Ende haben. Diese literarische Bildungslücke gehört geschlossen. Eines der unzugänglichsten Werke der Weltliteratur will erobert werden.

Ich werde Ulysses lesen. Doch ich möchte das nicht allein tun!

Daher rufe ich das Projekt “Reading Ulysses” aus.
Auf Twitter gab es dazu schon ein kleines Vorgeplänkel.

Die Eckdaten des Projekts:

1. Jeder Teilnehmer liest James Joyces Ulysses, auf welcher Sprache er möchte und so schnell oder langsam, wie er will.

2. Jeder Teilnehmer schreibt irgendwann im Laufe des Lesens einen Zwischenstand über die Lektüre. Das kann der Ersteindruck sein, das Gejammer über die Komplexität, das Hochgefühl in der Mitte des Werks oder die Prognosen vor dem Ende.

3. Jeder Teilnehmer schreibt nach der Lektüre (oder nach dem – absolut erlaubten – Abbruch der Lektüre) sein persönliches Fazit oder eine kleine Rezension.

Das war’s, mehr Regeln sind meiner Meinung nach nicht nötig. Für weitere Ideen bin ich jedoch immer offen (schreibt mir).

Alle Texte können gerne hier veröffentlicht werden. Wer selber einen Literaturblog betreibt, kann beim Projekt gerne ebenfalls mitmachen – gegenseitiges Verlinken und Veröffentlichen der Ulysses-Leseerfahrungen ist ausdrücklich erwünscht!

joyce

Mr Joyce und ich würden uns über viele Mitstreiter freuen!