Frauen, Väter und Schaben

“Kafka? Ach was, Vaterkonflikt und so. Fand ich in der Schule schon ätzend!”
– Alle. Immer. (Leider.)

Eigentlich wollte ich diesen Blogpost mit einem klaren “Jein” beginnen, denn “Jein” ist ein sehr kafkaeskes Wort in all seiner Widersprüchlichkeit. Aber diesmal ist der Fall klar: Nein. Nein, man kann Kafka nicht nur auf den Vater reduzieren. Auch ich wurde in der Schule mit Kafkas Brief an den Vater malträtiert, aber irgendwie war von Anfang an klar: Dieser Autor ist zu vielschichtig, um nur durch einen Ödipuskomplex erklärbar zu sein. Sein Werk ist es allemal. Das zeigen allein die tausenden Bände an Interpretationen und Analysen, die sich um Autor und Werk ranken.

Eine dieser Analysen wagt nun etwas Neues, indem sie das Medium wechselt: David Zane Mairowitz und der U-Comic-Altmeister Robert Crumb haben mit “KAFKA” ein Werk geschaffen, das das Leben und Schreiben Kafkas nahebringt, und zwar in Form einer hochinteressanten Verbindung von Text und Bild.

kafkacrumbcover

“KAFKA”, erschienen bei Reprodukt für sehr erschwingliche 17 €, kommt als broschiertes Buch daher und ist gut verarbeitet, insbesondere gefallen die beidseitigen großen Umschlagklappen. Der Leser lernt eine Menge, ohne – wie häufig bei Kafkainterpretationen – moralingeschwängert belehrt zu werden. Mindestens genau so wichtig wie das Verhältnis zum Vater ist die jüdische Herkunft Kafkas, der dem Prag einer Zeit entstammt, als die Stadt ebenso zwischen Tradition und Moderne wie auch zwischen zwei nationalen Identitäten aufgerieben wurde. Diese origin story, wie der Comicfreund sagt, diese Herkunftsgeschichte unseres unfreiwilligen Literatursuperhelden von Max Brods Gnaden wird dabei sehr angenehm einmal unter Auslassung aller “Der Autor ist tot!”-Dogmen erzählt und mit den Werken verknüpft. Dabei lernen wir nicht nur, dass Kafkas Werke sich durch einen feinen jüdischen Humor auszeichnen (der mir, ich gebe es zu, beileibe noch nicht auffiel), sondern dass, neben Vater und Prag, vor allem auch die Frauen eine wichtige Rolle in Kafkas Gedankenwelt spielten. So ist die “trostspendende Frau”, die sich verlorenen Charakteren teil erotisch andient, ohne ihnen helfen zu können, ein immer wiederkehrender Topos in Kafkas Werk. Von wegen Vater und so!

kafkacrumbpanel

Abgerundet wird all das durch eine Schlussepisode über den Kafka-Kult in Prag. Etwas ertappt fühlte ich mich, als der Umstand aufs Korn genommen wurde, dass man sogar Kafka-T-Shirts kaufen kann. So eins liegt nämlich bei mir im Schrank. Ziemlich weit oben.

Während Kafka unfreiwillig von Widersprüchen durchdrungen war, spielen Mairowitz und Crumb ganz bewusst mit dem Medium. “KAFKA” ist weder klassische Prosabiographie noch Comic; auch “illustriertes Buch” trifft es nicht. Kurze Texte wechseln sich ab mit handgeschriebenen Zitaten, auf Splashpanels, die auch mal im George Grosz-Stil daherkommen, folgen kleine Illustrationen, die nur einen kurzen Gedanken darstellen sollen, um dann wiederum von neuerlichem Text und ganzen Seiten voller klassischer Panels abgelöst zu werden.

Was dabei entstand, ist höchst lesenswert: Eine Autor-und-Werk-Biographie für Kafkaverehrer und Kafkahasser gleichermaßen. Ein leichtfüßiges, Dank Crumb immer wieder ironisch gebrochenes Werk über einen schwer zugänglichen Stoff. Große Lesefreude.

Meine Frau, ihres Zeichens Deutschlehrerin, versprach bereits, die Panelpassagen über Die Verwandlung im Unterricht zu nutzen. Immerhin bleiben ihre Schüler nun vom Brief an den Vater verschont.

Von Bookstores und Comicshops

Kann man in nur knapp 3 Wochen einen tiefen Einblick in die literarische Landschaft eines Landes ergattern? Nein. Aber man kann es versuchen. Und: Man kann zumindest einen kleinen Eindruck gewinnen. Daher folgt nun eine kleine Revue über all das, was mir während meines USA-Besuchs an literarischen, bibliophilen, comicbezogenen oder sonst mit interessanten Holzmedien zusammenhängenden Erkenntnissen unter gekommen ist. Das Ganze in Form von Thesen, die natürlich rein subjektiv sind und gerade durch ihre anekdotische Evidenz zu bestechen wissen.

These 1: Print lebt!

Ersteindruck am Flughafen in Washington DC: Die Zeitschriftenauswahl ist gigantisch und stellt diejenige der Zeitschriftenläden an den Flughäfen Frankfurt und München locker in den Schatten. Zuerst dachte ich: Okay, das ist ein riesiger Flughafen, da ist es nun mal so, dass die Auswahl größer ist. Aber dieser Eindruck verfestigte sich später: Selbst der kleinste Dorfkiosk in den Untiefen Virginias hatte sehr viel mehr verschiedene Zeitschriften im Sortiment als ein vergleichbarer Tante-Emma-Laden im nordrhein-westfälischen Niemandsland. Das führt natürlich dazu, dass unter der viel größeren Auswahl auch echte Exoten zu finden waren: So habe ich im Zeitschriftenbereich eines Supermarkts (!) gleich vier verschiedene Buddhismus-Fachzeitschriften gefunden. Enorm interessant – und hier nie gesehen. Jedenfalls nicht bei Edeka und Co.

These 2: Gesellige Buchriesen vertreiben ländliche Tristesse

Klar, man kennt das, da fährt man über die Autobahn und alle paar Kilometer kommt man an einem Thalia vorbei. Kennt man nicht? Hierzulande undenkbar, habe ich es in den USA während unseres Roadtrips dutzendfach gesehen, dass Barnes&Noble seine Filialen irgendwo im ländlichen Bereich an die Highways baut, inmitten von Baumärkten und Wal-Marts.

barnesandnoble

Das sah auf den ersten Blick sehr gewöhnungsbedürftig aus. Als wir dann mal genauer hinsahen und bemerkten, dass das hauseigene Café der Buchriesen-Filiale an einem Werktag um 22:30 immer noch prall gefüllt war, wurde uns klar: Buchriese hin oder her, in der ländlichen Tristesse übernahm der Barnes&Noble die Funktion einer sozialen Begegnungsstätte inmitten hunderter von Büchern. Das wünsche ich mir in kleinerer Form auch für den hiesigen ländlichen Raum…aber vielleicht nicht gerade von Thalia.

These 3: Wenig Verständnis zwischen Antiquariat und Neunter Kunst

Die Situation klassischer Buchantiquariate erscheint mit rückblickend mit der deutschen sehr vergleichbar: Die gutsortierten, schönen, mit der Zeit gehenden Antiquariate halten, trotz Barnes&Noble, Amazon und Co, die Stellung, auch in den Innenstädten, wenngleich natürlich vereinzelt. Zwei Umstände fielen mir auf: Zum einen ist das typische Antiquariat in den USA, ob in Charlottesville, Annapolis, Philadelphia oder New York, angenehm unaufgeräumt, wuseliger und mit Büchern stärker vollgepackt als hierzulande. Der von Büchern überquellende, unordentliche Buchladen, der von einem Nickelbrille tragenden älteren Herren im Tweed-Sakko geführt wird – ja, sowas scheint es in den USA tendenziell häufiger zu geben als hier. Dafür sind die Preise, was Bücher angeht, im Gegensatz zu hiesigen Gefilden in den Antiquariaten nicht viel niedriger als im Erstverkauf.

zweimalhowardzinn

Zum anderen scheint der vielbeschworene – und man verzeihe mir hier den Begriff – “Graphic-Novel-Boom” in den Antiquariaten noch nicht angekommen zu sein. Während ich hier im öffentlichen Bücherregal schon Comics fand und zwei meiner liebsten modernen Antiquariate hier in Münster regelmäßig Comics im Angebot haben, fielen diese in den US-Lädchen fast komplett aus. Dass es das literarische Grundwerk neben einer grafischen Adaption im gleichen Laden gab, kam nie vor – so musste ich mir die beiden Klassiker von Howard Zinn aus verschiedenen Antiquariaten zusammensuchen. Der Comicblindheit vieler Antiquare war es auch zu verdanken, dass ich in der hinterletzten Ecke eines wunderschönen Antiquariats in Philadelphia ganze sieben Originalhefte der 1986er-Watchmen-Serie gefunden habe, scham- und achtlos dort liegen gelassen, inmitten eines aussortierten Kartons voller alter Comics. Kostenpunkt: 10,50 $. Zusammen. Ich habe nicht lange überlegt.

watchmen

Natürlich durfte auch ein Besuch bei “Midtown Comics” und “Forbidden Planet” nicht fehlen, den (scheinbaren) Tempeln der Comickunst. Aber das wäre zu viel gesagt: Etwas enttäuscht war ich, als mir klar wurde, dass diese Läden, wie alle anderen, kleineren US-Comicshops, in denen ich war, zu 95% Superheldencomics führen. Eine Biographie in Panelform, eine literarische Comicadaption, ein schwarzweißes Indiecomic, irgendwas Frankobelgisches – Seltenheiten, leider. Die Amis stehen nun mal primär auf Supie, Spidey und Co. Das ist nicht schlimm. Aber zum Stöbern in abwechslungsreicheren, internationalen (Autoren)-Comics lobe ich mir dann doch hiesige Comicläden wie Neunte Kunst in Osnabrück oder den Groben Unfug in Berlin.

These 4: Strand Books ist das Paradies auf Erden

“18 miles of books!” – Ungläubig schaute ich in den Reiseführer, wo das “größte Antiquariat der Welt”, das mit diesem Slogan wirbt, vorgestellt wurde. Bücher auf 28,968 Kilometern erwarten den Besucher von Strand Books in New York City allerdings nicht, oder jedenfalls wohl nur dann, wenn man die Bücher alle aneinander legt. Was die Quadratmeteranzahl oder die Länge der Gänge angeht, kann diese Zahl nicht stimmen – dennoch ist der “Strand” gigantisch. Man muss es sich vorstellen wie zwei Thalias übereinander, nur in sympathisch. Und, der Clou: Ausschließlich mit antiquarischen Büchern. Es war wundervoll. Madame und ich sind gleich zwei Mal dorthin gefahren, trotz sehr knapp bemessener Zeit im Big Apple. Freundliches Personal, ein hervorragendes Ordnungssystem, ein ganzes Stockwert nur für “rare Books” –  Strand Books bietet alles, was das bibliophile Herz begehrt.

strandbookstreet

Kurz habe ich darüber nachgedacht, alle Zelte hier in Deutschland abzubrechen, nach NY zu ziehen und bei Strand Books anzuheuern. Ich würde in diesem Himmelreich des Buches jeden Job machen, auch putzen. Notfalls mit einer einzigen Zahnbürste. Um so mehr Zeit dürfte ich im Paradies verbringen.

Expressionistische Sequenzen–Chagall in Russland

Leider hatte ich Zeit meines Schülerlebens nur schlechte Kunstlehrer und Kunstlehrerinnen. Es ist somit nicht allzu viel Wissen zu Künstlern und Kunstgeschichte hängen geblieben. Ein Umstand, den ich heute sehr schade finde. Glücklicherweise bieten Künstlerbiographien in Comicform die Möglichkeit, die eine Leidenschaft mit dem anderen, wachsenden Interesse zu verbinden. So kam es, dass ich nach dem starken “Munch” ein anderes Werk aus dem avant-Verlag las, das ebenfalls vordergründig eine Künstlerbiographie ist: “Chagall in Russland” aus der Feder des französischen Zeichners und Szenaristen Joann Sfar.

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Joann Sfar ist eine Größe der Comicszene, und nicht nur der frankobelgischen. Er schreibt und zeichnet und malt für jedes Alter: Seinen “Vampir” lieben Kinder, seine Mitarbeit an “Donjon” begeistert Jugendliche und sogenannte “junge Erwachsene” und Arbeiten wie “Klezmer” oder “Die Katze des Rabbiners” erfreuen sich einer erwachsenen Leserschaft. “Die Katze des Rabbiners” habe ich sehr gern gelesen, auch wenn mir der Stil zunächst nicht allzu gut gefiel. Meine persönliche Antipathie gegen allzu Cartoonhaftes wurde dabei aufgrund der exzellenten Erzählung, der grandiosen Dialoge und der vielen philosophischen Inhalte mehr als aufgewogen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei “Chagall in Russland”: Sfar beschreibt einen fast noch jugendlichen, verträumten Marc Chagall, der bereits ein bekannter und aktiver Maler ist, seine Heimat Witebsk im heutigen Weißrussland aber noch nicht gen Paris, ins Mekka der damaligen Kunstszene, verlassen hat. Die Geschichte ist so einfach wie verrückt und verträumt, und damit sowohl zu Sfar als auch zu Chagall passend: Der Künstler liebt ein Mädchen, das die Liebe nicht erwidert und versucht nun, ihr Herz zu gewinnen, indem er ein jüdisches Theater organisiert. Allein aufgrund des Umstands, dass Sfars Chagall dabei von einem grünhäutigen Jesus Christus, einem Pferde und Menschen abschlachtenden Golem und einem kommunistischen Klezmerspieler begleitet wird, zeigt, dass Sfar dann doch keine Biographie verfasst hat: Der hier dargestellte Chagall hat auf der Handlungsebene bis auf die Herkunftsstadt und den jüdischen Kulturkontext nichts gemein mit der historischen Persönlichkeit.

panelschagall

Ist das schlimm? Nein, keinesfalls. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erwartung, eine wahrheitsgetreue Künstlerbiographie zu lesen, gebrochen wird, verspricht “Chagall in Russland” echte Lesefreude. Und dass das Werk etwas völlig anderes und mitnichten historisch bierernst vorgeht, hätte ich mir bereits bei dem Namen des Autors denken können.

Sfar nutzt auch hier seinen stets überzeichnenden, wenig akkuraten, schraffurintensiven, cartoonähnlichen Stil. Doch alles passt hier zusammen: Die Farben sind so intensiv (quietschgrüner Jesus!), dass man nicht umhin kommt, die Parallele zum Expressionismus Chagalls zu sehen, die Emotionen sind so direkt dargestellt, dass der höchst optimistische Charakter Chagalls deutlich zur Geltung kommt. Allein die extrem strenge Panelstruktur von 3×2 Panels pro Seite, die nicht ein einziges Mal gebrochen wird, widerspricht ein wenig dieser Näherung auf der Bild- und Farbebene.

chagallparis

Dennoch lässt sich festhalten: Sfar nähert sich Chagall nicht historisch, sondern emotional. Und diesen emotionalen Näherungsprozess kann der Leser durch die gesamte, turbulent-verrückte Geschichte nachvollziehen.

Das Werk macht insgesamt jede Menge Lust auf mehr. Lust auf mehr von Chagall. Aber auch auf mehr von Sfar.