James Joyce – Biographie als Comic: Innenansichten eines Genies

Porträt eines Dubliners

Am 16. Juni dieses Jahres steht ein besonderes Ereignis vor der Tür. Nein, ich meine nicht das erste Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM, sondern den Bloomsday, der sich am 16. Juni zum 110. Mal jährt. Nachdem ich vor einiger Zeit das Projekt #ReadingUlysses ins Leben rief, freue ich mich immer über jeden Informationsfetzen, den ich über den großartigen James Joyce in die Finger bekommen kann. Als dann vor kurzem bei Egmont eine Comicbiographie über das Genie aus Dublin erschien, war klar, dass daran kein Weg vorbei führte.

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Illustrierte Lebenswege

Der spanische Comickünstler Alfonso Zapico zeichnet mit „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ mit viel Liebe zum Detail das unstete Leben von Joyce nach. Dabei verbindet er zwei scheinbar gegensätzliche Welten: Die ganz klassische Biographie mit dem Comic. Zapico beginnt bei Adam und Eva, indem zunächst einmal der Urgroßvater des kleinen James zu Wort kommt. Das Comic endet mit Joyces Tod und mit einigen Gedanken zum künstlerischen Nachhall des großen Dubliners. Dazwischen wird Joyces Leben streng chronologisch nacherzählt – und genau so, wie Joyce das Leben, den Alkohol, die Frauen und das Schreiben und vollen Zügen genoss, merkt man, dass Zapico gr0ße Freude an der Schaffung dieses Comics hatte.

Joyce wächst in Dublin auf, und auf den ersten Seiten lernen wir seine schwierige Familie und seine nicht minder komplizierten Schulfreunde kennen. Bei der Vielzahl der Personen, die Joyce auf seinem Lebensweg begleitet haben, kann man schnell den Überblick verlieren, sodass Zapico alle wichtigen Personen jeweils einzeln in einem kleinen Panel vorstellt:

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Joyce hat einen großen Verschleiß an Freunden, Weggefährten, Verlegern, Sympathisanten, Feinden, Saufkumpanen und vor allem Frauen, sodass diese Technik der Personenbeschreibung dem Comic sehr gut tut. Relativ früh in seinem Leben lernt Joyce jedoch Nora Barnacle kennen, die von da an die große und – neben der Literatur – einzige Konstante in Joyces Leben sein wird. Mit dem jungen Paar erlebt der Leser eine Odyssee (ja, richtig gelesen) durch verschiedenste europäische Städte, bei der sich Joyce künstlerisch immer stärker von der althergebrachten Literatur emanzipiert und schließlich (neben Franz Kafka) zu einem der wichtigsten Wegbereiter der modernen Literatur wird.

Getuschte Dynamik

Wir werden beim Lesen Zeuge, wie der Protagonist dieser lesenswerten Biographie schreibt, wenn er nicht im Bordell ist, im Bordell ist, wenn er nicht gerade mit Samuel Beckett in einer Bar sitzt, und wie er in einer Bar sitzt, wenn er nicht gerade schreibt. Joyce war unruhig und launenhaft, exzentrisch, arrogant, überheblich und doch liebevoll und verletzlich, glaubt man Zapico, und wir haben aufgrund der umfassenden Recherche des Autors allen Grund, ihm zu glauben.

Dieses hochdynamische Leben kleidet Zapico in ebenso lebendige Panels: Sein Strich ist nie starr, immer in Bewegung. Die getuschten Schwarzweiß-Zeichnungen gefallen mir, trotz einer latenten Abneigung gegen reines S/W, sehr. Wenngleich die Gesichter teilweise etwas zu cartoonig sind, besticht das Comic doch insgesamt durch einen enorm hohen Detailgrad. Zeichnerisch und in Bezug auf die Recherche eine echte Fleißarbeit von Zapico, den man dafür nur loben kann.

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Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: So sehr das Leben Joyces beleuchtet wird, so wenig wird inhaltlich über dessen Literatur gesprochen. Es wird nachvollzogen, wie Joyce seine berühmten Werke wie „A Portait of the Artist as a Young Man“, „Ulysses“ oder „Finnegans Wake“ schreibt, es fehlt dabei jedoch ein kleiner Ausflug in diese Werke hinein: Ich hätte mir ein paar Exkursionen in die Welt von Stephen Dedalus oder Leopold Bloom gewünscht, wenn auch nur für wenige Panels.

Fazit

Aber das ist Jammern auf hohem Niveau: „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ ist eine gelungene Biographie über einen der interessantesten Autoren des 20. Jahrhunderts. Ich habe die 224 Seiten an einem Abend gelesen und war hin und weg. Aber auch für Personen, die nicht direkt zum Kreis der Joyceaner gehören, sei diese Comicbiographie ans Herz gelegt.

In einem unbekannten Land…

…vor gar nicht allzu langer Zeit…

Im Herbst steht ein Jubiläum ins Haus: Am 09. November 2014 jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal. Weltpolitisch betrachtet sind 25 Jahre keine allzu lange Zeit; jedoch hat sich in den Jahren seit der Wende in unserem geeinten Land soviel getan, dass die Spuren der DDR-Vergangenheit mehr und mehr verblassen.

Auf Spurensuche begibt sich auch der Berliner Comic-Künstler Mawil, der 1976 in Ostberlin geboren wurde und somit die letzten DDR-Jahre noch als Kind und Jugendlicher erlebte. Nach über sieben Jahren legt er mit “Kinderland” sein neues Comic vor, dessen fast 300 farbenfrohe Seiten heute am GratisComicTag bei Reprodukt erscheinen. Ohne die Machenschaften des ostdeutschen (Überwachungs-)Staates zu verklären oder in “Ostalgie” zu verfallen, ergründet Mawil pointiert, wie Kinderaugen das ganz alltägliche Leben in der DDR wahrnahmen.

Pioniere, FDJ und Tischtennis

Mirco ist 13, für sein Alter etwas klein geraten und dazu auch noch recht nah am Wasser gebaut. Er geht in die 7. Klasse der Tamara-Bunke-Schule in Ostberlin, schleppt sich mehr schlecht als recht zu dem einen, richtigen Klavierunterricht und zu dem anderen “Klavierunterricht”, das heißt zu den jungen Pionieren. In der Klasse scheint er mit den Mädchen, die ihn zumindest dulden, besser klarzukommen als mit den Jungs, die ihn bestenfalls ignorieren.

Immer wieder hat er Streit mit den draufgängerischen, viel älteren FDJlern Bolzen und Prinz, die ihm das Leben schwer machen. Eines Tages lernt er Torsten kennen, den unangepassten neuen Mitschüler, dem Zuspätkommen nichts ausmacht und der tatsächlich eine Digitaluhr aus dem Westen am Handgelenk trägt.

Als Mirco seine Eltern eines Tages dabei belauscht, wie diese vom “Rübermachen” sprechen, bekommt er es mit der Angst zu tun. Ablenkung findet der unsichere Siebtklässler nur im Tischtennis, wo er am liebsten ein Turnier für die ganze Schule organisieren würde. Doch das ist am Pioniergeburtstag natürlich nicht erlaubt. Und sowieso hat die DDR die Sportförderung von Tischtennis eingestellt, da die Chinesen, die ihren ganz eigenen Sozialismus betreiben, darin zu gut geworden sind.

Die Ereignisse verdichten und überschlagen sich, bis irgendwann der 09. November naht. Und damit eine Nacht, die alles verändert.

Konsequente Kinderaugen

“Kinderland” ist ein kleiner Geniestreich. Mawil hält konsequent die kindliche Perspektive durch, jede Szene ist aus Mircos Sicht geschrieben und gezeichnet, sodass der Leser schon nach wenigen Panels mitfiebert – und sich vielleicht ein wenig an seine eigene Kindheit erinnert, egal ob ins Ost oder West. Die politischen Umstände und Hintergründe lässt Mawil dabei stets sehr subtil einfließen. So mag auf einem Tisch beiläufig Westpresse wie der SPIEGEL liegen oder eine Mitschülerin mag plötzlich mitsamt Familie verschwinden. Mirco versteht all dies nicht richtig, und viel wichtiger ist ohnehin das Tischtennis. Aber Mirco und damit auch der Leser spürt, dass das Politische im Alltag hintergründig allgegenwärtig ist.

Die äußere Struktur der Panels ist genau so streng wie der zeichnerische Inhalt frei und jovial ist: In starren, fast nie gebrochenen, stets mit fettem Strich umrandeten Panels brennt Mawil jeweils ein kleines Feuerwerk an Bonbonfarben und professionell-naiven Zeichnungen ab. Das Ganze ist, auch wenn ich das Wort nicht besonders mag, “cartoonig” – aber ganz sicher nie albern. Mawil trifft jeden Ton.

Das gilt auch für die grandiosen Dialoge. Mawil lässt ganz bewusst die Jugendsprache der späten Achtziger wiederaufleben. Das ist gewöhnungsbedürftig, schafft aber eine umso realistischere Atmosphäre. Getragen wird der Text von Lettering und Soundeffekten, die genau so schrill und bunt sind wie die Zeichnungen und mit diesen bestens harmonieren.

Fazit

“Kinderland” ist eine wunderbare Erzählung aus einem Guss. Mawil schafft es, das Medium Comic so kohärent zu nutzen, wie ich es lange nicht mehr gelesen habe.

Wer sich für eine realistische, subtil politische und keinesfalls verklärende Betrachtung des untergegangenen Nachbarlands interessiert, sollte “Kinderland” unbedingt eine Chance geben. Dieses Comic ist für alle Altersklassen geeignet und ebenso für Comic-Aficionados wie für Neueinsteiger in die Welt der Sprechblasen zu empfehlen.

Ein ganz großes Lob an Mawil nach Berlin!

We the People

Die Bürgerrechtsbewegung im US-Comic am Beispiel von drei Kurzrezensionen

“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”
– Declaration of Independence

Letztes Jahr jährte sich der March on Washington zum 50. Mal – jener Aufmarsch der (nicht nur) afroamerikanischen Bevölkerung “für Arbeit und Freiheit”, wie es offiziell heißt, bei dem Dr. Martin Luther King jr. seine berühmte “I Have a Dream”-Rede hielt. Anlässlich dieses Jubiläums erschienen einige Perlen im Comicbereich, die die historische Perspektive einnehmen und das damalige Geschehen reflektieren, aber auch den heutigen Stand der Gleichberechtigung zwischen der schwarzen und der weißen US-Bevölkerung betrachten. Zwei dieser Werke hab ich mir vorgeknöpft. Dazu betrachte ich noch ein Heft, das im Jahr 1957 – also noch vor dem March on Washington, vor der Verleihung des Nobelpreises an King und vor dessen großartiger Rede – mitten im Bürgerrechtskampf als Mutmach-Publikation erschienen ist.

I. March – Book One
Szenario: John Lewis, Andrew Aydin / Zeichnungen: Nate Powell / 2013

Im ersten Teil der March-Reihe, die im US-Original bei TopShelf erscheint, erzählt Congressman John Lewis seine ganz persönliche Geschichte. Lewis war in den sechziger Jahren und bis weit danach ein führender Kopf des schwarzen Civil-Rights-Movements und sitzt seit bereits 1987 für den Bundesstaat Georgia im US-Kongress. Als Erzählperspektive wählt der Szenarist Andrew Aydin den Tag der Inauguration Barack Obamas. An diesem Tag empfängt Lewis in seinem Abgeordnetenbüro eine junge schwarze Familie und beginnt, den kleinen Kindern vom Freiheitskampf ihrer Gruppe zu erzählen.
Dabei holt Lewis weit aus: Beginnend auf einem Feld im ländlichen Alabama sieht man den kleinen John beim Füttern der Hühner. Wenige Panels später erfährt der Leser, wie Lewis als junger Student das erste Mal in Kontakt mit der Bürgerrechtsbewegung kommt. Den Schwerpunkt des Buches nehmen die Vorbereitungen eines Counter Sit-Ins ein: Damals waren öffentliche Orte wie Busse und Cafés zumindest im Süden der USA vollständig segregiert, sodass Schwarze sich nicht einfach an die Theke einer Bar oder eines Restaurants setzen durften. Lewis und seine Mitstreiter übten diese geplante Konfrontation und stellten die zu erwartenden Demütigungen durch die weißen Restaurantbesucher nach. Dadurch waren sie befähigt, im bevorstehenden Ernstfall des geplanten Sit-Ins die von Dr. Martin  Luther King gepredigten Grundsätze des gewaltlosen Widerstands umsetzen zu können.
Auch wenn man sich das Ende vorstellen kann, soll hier nichts gespoilert werden. “March” endet sehr offen, handelt es sich doch um den ersten Band einer Trilogie.
Mit Spannung erwarte ich den zweiten Teil. Lewis schafft es – nicht zuletzt auch unterstützt durch Nate Powells wunderbar dynamischen Schwarzweiß-Strich, die damalige Konfrontation lebhaft rüberzubringen. Gerade bei den Szenen zur Vorbereitung des Cafébesuchs durch die Schwarzen wird deren Angst vor erneuten Demütigungen ihrer weißen Peiniger spürbar. Ein lesenswertes, authentisches Comic.

II. The Silence Of Our Friends
Szenario: Mark Long, Jim Demonakos / Zeichnungen: Nate Powell / 2012

Ein zweites Comic zum gleichen Oberthema, ebenfalls von Powell mehr als solide gezeichnet, und doch ganz anders. Long und Demonakos erzählen in dem bei First Second erschienenen Comic sowohl aus der schwarzen als auch aus der weißen Perspektive, wie schwierig es für die Toleranz auf beiden Seiten gegenüber der jeweiligen Gegenseite war, zu überleben. Zwei junge Familienväter, einer schwarzer Bürgerrechtler, der andere weißer Reporter, versuchen, die aufkeimende Freundschaft zwischen den Familien auszuleben, was ihnen aufgrund des sie umgebenden Konflikts mehr schlecht als recht gelingt.
Das Werk ist semi-autobiographisch – Long erzählt die Geschichte seines Vaters, interpretiert sie aber frei. Im Zentrum steht hier der Schusswechsel am Rande einer Demonstration, an der Longs Vater als Reporter teilnahm. Er muss sich später, im Zeugenstand des folgenden Prozesses, entscheiden, ob er seine ihm zugedachte Rolle als angepasster Weißer ausfüllt, oder ob er die Kraft findet, die unbequeme Wahrheit zu sagen.
In “The Silence of Our Friends” nimmt sich Powell zeichnerisch noch etwas größere Freiheiten als in “March”. Das bekommt dem Comic meiner Meinung nach nicht ganz so gut, wirkt doch alles gelegentlich etwas chaotisch. Dennoch ist auch dieses Werk absolut lesenswert, wenngleich einen Hauch schwächer als “March”.

Aber das ist wohl Geschmackssache: Wer gegen einen Schuss Pathos nichts einzuwenden hat, der greife zum höchst authentischen March. Wer einen etwas verspielteren, jedoch nicht weniger eindrucksvollen Zugang zum Thema sucht, der lese “The Silence of Our Friends”. Am besten ist es ohnehin, beide Comics zu lesen.

III. Mathin Luther King and the Montgomery Story
Publikation der Fellowship of Reconciliation / 1957

Zum Abschluss noch ein Gimmick: “Martin Luther King and the Montgomery Story” ist das Comic, das John Lewis dazu inspirierte, “March” zu schreiben und seine Geschichte mit den Mitteln des Mediums Comic zu erzählen. Es handelt sich um eine Publikation, die 1957 von der religiösen Organisation “Fellowship of Reconciliation” herausgegeben wurde. Zeichner und Szenarist sind (mir) unbekannt. Ich habe das Comic für 3,50 € irgendwo in den Weiten des WWW ergattert. Dieses kleine Geld war mehr als gut investiert: Das über 50 Jahre alte Comic umweht tatsächlich ein Hauch Geschichte: Man kann sich vorstellen, wie amerikanische Jugendliche schwarzer Hautfarbe Ende der 1950er-Jahre in dem Comic geblättert haben und motiviert wurden, den immer aussichtsreicher werdenden Kampf gegen die Segregation aufzunehmen.
Im Zentrum der Geschichte steht der Busstreik von Montgomery, der Heimatstadt Dr. Martin Luther Kings. Der Bus-Boykott war die spontane Folge der couragierten Weigerung von Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu räumen. In der Folge des Boykotts, der  als Initialzündung der politischen Arbeit von Dr. King genannt werden kann, erfährt der Leser ähnlich wie in “March”, wie die Bürgerrechtsaktivisten ihre Freiheit durch die Anwendung des gewaltlosen Widerstands erlangten.
Das Comic, bei dem es sich nunmehr eher um ein historisches Dokument handelt als um ein reines Comicheft, schließt mit einer Anleitung zum gewaltlosen Widerstand (“How the Montomery Method Works”) und zur Selbstorganisation. Damit kam es seinem Auftrag zur Motivation der Unterdrückten nach.

Mich haben diese 16 Seiten stärker beeindruckt als die anderen beiden Titel.

I Have a Dream – 1963