Kleine Rituale großer Denker

Wie schafft ein großer Geist das, was er schafft?

Dieser Leitfrage gehen heutzutage ganze Heerscharen an Büchern über Selfhelp, Selfmanagement, Zeitmanagement, Simplify-Dies-und-Das, Getting Things Done und artverwandte Themen nach. Der Nutzen ist, zumindest ganz persönlich für mich, begrenzt; habe ich doch einige Self-Irgendwas-Bücher gelesen, mit mäßigem Erfolg. Also musste eine Alternative her.

dailyrituals

Der in Brooklyn lebende Schreiberling Mason Currey hat sich die Mühe gemacht und die Lebensläufe von insgesamt 161 größtenteils sehr, gelegentlich weniger berühmten Persönlichkeiten durchforstet. Eines eint all diese Personen: Sie waren beziehungsweise sind enorm erfolgreich in dem, was sie tun. Grund genug, sich die kleinen und großen Rituale, die Tagesabläufe, Arbeitstechniken, Spleens und Marotten dieser großen Denker anzuschauen.

Currey wollte der Frage nachspüren, welche äußeren Bedingungen dazu befähigen, Großes zu leisten – egal auf welchem Gebiet. Die 161 vorgestellten Personen umfassen einen nicht unbeträchtlichen Teil des Who Is Who aus Kunst, Literatur und Wissenschaft.

So lernen wir, dass Sigmund Freud ohne Zigarren nicht arbeiten konnte – über 20 davon hat er am Tag geraucht.  C.G. Jung brauchte die Abgeschiedenheit eines Gebäudes, dessen Technik auf dem Stand des 16. Jahrhunderts war, um zu schreiben. Andy Warhol übermittelte elf Jahre lang jeden Morgen am Telefon die Geschehnisse des Vortages an eine Freundin, die auf diese Weise sein “Tagebuch” für ihn führte. Wir erfahren auch, dass George Orwell zwischen 9 Uhr und 13:30 Uhr mental am leistungsfähigsten war – gut für ihn, gab ihm der Chef des Buchladens, in dem er arbeitete, doch genau in diesem Zeitraum stets frei, um zu schreiben.

Dies sind nur wenige Beispiele aus dem sehr lehrreichen und amüsanten Büchlein, das prall gefüllt ist mit den, teilweise sehr detaillierten, Tagesabläufen großer Denker und Künstler. Wenn mir nach der Lektüre des Buches eins aufgefallen ist, dann, dass die allermeisten Denker folgende Dinge unverrückbar internalisiert haben – sozusagen ein Meta-Tagesritual kreativer Genies:

1. Früh aufstehen.
2. Viel Kaffee trinken.
3. Wenig Essen.
4. Lange Spaziergänge.
5. Martinis, wahlweise Champagner oder Whiskey.

Ob das funktioniert? Nun, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Reading Ulysses #0

Alles begann im Matheunterricht. Einer Disziplin, die ich wie keine andere zu Schulzeiten gehasst habe. Die meisten Inhalte aus unseren Mathestunden, von der Kurvendiskussion über Integrale bis hin zu den binomischen Formeln habe ich erfolgreich verdrängt. Eines aber blieb in Erinnerung: Das war der Tag, an dem unser Mathelehrer plötzlich eine volle Unterrichtsstunde von James Joyces “Ulysses” sprach. Es war der 16. Juni 2004 und damit der 100. Bloomsday. Seine wenig interessierten Schüler damit zu behelligen war die Art und Weise, auf die unser Mathelehrer die Feierlichkeiten dieses Tages beging.

Ich hörte gebannt zu und verstand nicht einmal die Hälfte. Da ist also dieses Buch von Mr Joyce, das keiner versteht, aber jeder lesen möchte oder behauptet, gelesen zu haben – nach Hemingway also exakt das, was einen echten Klassiker ausmacht.

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Wenn sogar Marilyn Monroe Ulysses liest, soll dieses Unwissen nun ein Ende haben. Diese literarische Bildungslücke gehört geschlossen. Eines der unzugänglichsten Werke der Weltliteratur will erobert werden.

Ich werde Ulysses lesen. Doch ich möchte das nicht allein tun!

Daher rufe ich das Projekt “Reading Ulysses” aus.
Auf Twitter gab es dazu schon ein kleines Vorgeplänkel.

Die Eckdaten des Projekts:

1. Jeder Teilnehmer liest James Joyces Ulysses, auf welcher Sprache er möchte und so schnell oder langsam, wie er will.

2. Jeder Teilnehmer schreibt irgendwann im Laufe des Lesens einen Zwischenstand über die Lektüre. Das kann der Ersteindruck sein, das Gejammer über die Komplexität, das Hochgefühl in der Mitte des Werks oder die Prognosen vor dem Ende.

3. Jeder Teilnehmer schreibt nach der Lektüre (oder nach dem – absolut erlaubten – Abbruch der Lektüre) sein persönliches Fazit oder eine kleine Rezension.

Das war’s, mehr Regeln sind meiner Meinung nach nicht nötig. Für weitere Ideen bin ich jedoch immer offen (schreibt mir).

Alle Texte können gerne hier veröffentlicht werden. Wer selber einen Literaturblog betreibt, kann beim Projekt gerne ebenfalls mitmachen – gegenseitiges Verlinken und Veröffentlichen der Ulysses-Leseerfahrungen ist ausdrücklich erwünscht!

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Mr Joyce und ich würden uns über viele Mitstreiter freuen!

Dein, mein – unser Buch?

Warum das Schreiben einsam bleiben muss

Ich bin ein großer Freund des “Social Reading”. Zunächst assoziiert man damit neumediale Buchcommunities á la GoodReads, LovelyBooks, WasLiestDu oder diesen neuen Streich von einem gewissen Herrn Lobo. Das mag den Eindruck erwecken, das soziale Lesen sei etwas Neues. Aber weit gefehlt: Social Reading gibt es bereits so lange, wie es Bücher gibt.

Im 19. Jahrhundert gehörte die gepflegte Konversation im Lesezirkel über Prosa und Poesie zum guten Ton nicht nur der höchsten gesellschaftlichen Schichten, sondern auch in weiten Teilen des Bürgertums. Scheinbar ist diese Freizeitbeschäftigung – was die gesellschaftliche Breite und die Zahl der sozial Lesenden – in den letzten gut hundert Jahren ein wenig eingeschlafen, um nun über das Netz eine Renaissance zu erleben. Doch nicht nur im Netz, sondern auch offline lässt sich hervorragend sprechen über Kurzgeschichten, Romane, Comics, Gedichte – kurz, alles, was das literarische Herz begehrt. Ich bin in keiner der oben genannten Lesecommunities aktiv. Da lobe ich mir meinen Comiclesekreis.

So weit, so wünschenswert – das gemeinsame Lesen lebt und weist eine Vielzahl an Erscheinungsformen auf. Was ich jedoch gestern erneut gelesen habe, ist etwas ganz Anderes – ich nenne es mal “Social Writing”. Und genau das sehe ich sehr kritisch.

schreiberei

Gestern bekam ich eine automatisierte eMail des Pressezentrums der Frankfurter Buchmesse mit einer Pressemitteilung zu “Frankfurt Storydrive”. Dort ging es unter anderem um neue Konzepte im Bereich Storytelling und Demokratisierung der Buchbranche. Zum Thema Social Writing heißt es:

Beispielhaft für die Buchbranche demonstrierten das der britische Verleger John Mitchinson und Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky aus Russland. Mit seiner in der Buchbranche bislang einzigartigen Publishing- und Finanzierungsplattform Unbound führt Mitchinson Schriftsteller und Leser bereits im Prozess des Schreibens zusammen. Leser können mittels finanziellen Beiträgen in verschiedenen Größenordnungen kreativen Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten nehmen. Am Ende steht die Wandlung der Nutzer von passiven Konsumenten zu Marketer, Co-Produzenten und Autoren. Das vor zwei Jahren gegründete Online-Portal begleitete bereits 80 Buchprojekte und hat 35.000 registrierte Nutzer.

Das ließ mich stutzen. “Kreativer Einfluss auf die Entwicklung der Geschichten.” Was zum Henker bedeutet das?

Lässt ein Autor künftig seine Leserschaft über das Ende eines Romans abstimmen? Gibt es bald das große Mitspracherecht der Leser zur Frage, welche Figuren in einer Geschichte überleben dürfen und welche nicht? Welche Figuren sich ineinander verlieben, wer wen hasst, wer mit wem interagiert? Oder noch schlimmer: Lassen Verlage demnächst ihre Kunden über das Netz entscheiden, welche Art von Büchern die Verlagsautoren schreiben sollen?

Wo bitte bleibt da die Überraschung? Wo die Freude darüber, einen Autor entdeckt zu haben, wenn meine Stimme im Netz ihn mit geschaffen hat?

Und nun der Knaller: Es sind die “finanziellen Beiträge in verschiedenen Größenordnungen”, die den kreativen Einfluss bestimmen. Aha. Der Leser mit gut gefülltem Bankkonto, der den Protagonisten einer Geschichte abgrundtief hasst, überweist 5.000,00 € auf das Autoren- bzw. Verlagskonto und schwupps, der Protagonist wird entsorgt.

Das ist literarischer Auftragsmord.

Social Writing funktioniert im Wissenschaftsbetrieb, bei der gemeinschaftlichen Arbeit an Sachtexten. Aber auch nur da. Es mag Ausnahmen geben – aber:

Hätte Kafka, das Epizentrum der Einsamkeit, seine “Verwandlung” geschrieben, so wie sie ist – wenn er zuvor hunderte potentielle Leser befragt hätte? Hätte Goethe den Werther verfasst, blutjung, wenn er sich der Meinung der Masse gebeugt hätte? Hätte Thomas Mann die Buddenbrooks geschrieben, wenn er im damaligen Lübeck vorher eine Umfrage gestartet hätte?

Social Writing up my ass. Das Schreiben muss einsam bleiben.