Manu Larcenet – BLAST Nr. 1: Masse
Polza Mancini wird verhaftet. Ein Riese, “geformt aus Fett und enttäuschten Hoffnungen”, wie es im Klappentext heißt. Ihm wird ein Gewaltverbrechen an einer Frau vorgeworfen. Da die Beweislage bereits erdrückend ist, haben die Ermittler Zeit. Zeit, die sie nutzen wollen, um den Menschen Polza zu verstehen. Die genauen Umstände des Polza zur Last gelegten Verbrechens bleiben während des gesamten Comics unklar. Mit dem Verhör des Beschuldigten beginnt die Geschichte. Und diese hat es in sich.
“Masse” ist der Name des ersten Teils von “BLAST”, einer mehrbändigen, auf deutsch bei Reprodukt erscheinenden Reihe des französischen Autors und Zeichners Manu Larcenet. Mittlerweile ist bereits der zweite Band erschienen, der dritte ist in Vorbereitung.
Polza nimmt sich gegenüber den Polizisten Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte eines Niedergangs: Der schwerst adipöse Protagonist ändert nach dem Tod seines Vaters radikal sein Leben, gibt seine bürgerliche Existenz als verheirateter Kochbuchautor auf und zieht, bepackt mit Unmengen von Alkohol, in den Wald. Warum tut er dies? Wegen des BLAST.
Was zur Hölle ist der BLAST? Das versucht der Leser ebenso herauszufinden wie die beiden Polizisten beim Verhör, das die Rahmenhandlung darstellt. Der BLAST scheint ein Moment höchster Erleuchtung, größten Glücks und tiefster innerer Ruhe zu sein, den Polza kurz nach dem Tod seines Vaters erlebte und dem er nun nachjagt. Immer wieder wird die rückblickende Erzählung von Polza unterbrochen und der Leser wird zurück in die Amtsstube geholt, wo sich die Polizisten über Polzas Geschichte wundern: Sie glauben ihm kein Wort. Er kleidet seine Ausführungen über den Sinn seines Aussteigerdaseins in philosophische Gedanken, die er auch noch elegant zu verpacken versteht. Genau in dem Moment, in dem der Leser beginnt, Polza zu verstehen und in dem die Sympathie für den ebenso traurigen wie tiefgründigen Riesen anschwillt, versteht es Larcenet, die Geschichte zu brechen und dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen: Die Polizisten konfrontieren Polza immer wieder mit Widersprüchen seiner Geschichte – und seine Biographie bekommt Risse. Der Leser weiß nicht, wem er glauben soll, und all dies vor dem Hintergrund der Schatten des diffusen Gewaltverbrechens und des ebenso unklar bleibenden BLAST-Erlebens.
Dies ist die Mélange, aus der Manu Larcenet ein starkes Album geschaffen hat. Die Umsetzung dieser Geschichte steht dem in nichts nach: Larcenet nutzt einen grafischen Stil, der mir so noch nicht untergekommen ist. Eine schwarzweiße Mischung aus Kohlezeichnung und schattenartigem Aquarell, die die dutzenden Zwischentöne der Melancholie, die Polza erlebt und schildert, einfängt und konserviert. Die Körper sind verformt, die Nasen zu lang, die Extremitäten unförmig – alles ist eine Spur absurd; einen guten Schuss Ironie hat Larcenet auch hinzugefügt. Der BLAST, das epiphaniegleiche Erweckungserlebnis, reiht sich in die schwarzweiße Melancholie durch fröhliche Buntstiftzeichnungen ein – die von zwei Mädchen, Lille und Lenni (den Kindern des Autors?) gezeichnet wurden.
All das macht Lust auf Mehr, als ich den ersten Band durch hatte, war ich enttäuscht, mir nicht auch noch den zweiten besorgt zu haben. “BLAST” ist definitiv lesenswert: Eine Geschichte, deren Maß an Originalität vieles andere aus den letzten Jahren in den (aquarellartigen) Schatten stellt.
Manu Larcenet – BLAST Nr. 1: Masse
Reprodukt 2012, 204 Seiten, 29 EUR