Von Bookstores und Comicshops

Kann man in nur knapp 3 Wochen einen tiefen Einblick in die literarische Landschaft eines Landes ergattern? Nein. Aber man kann es versuchen. Und: Man kann zumindest einen kleinen Eindruck gewinnen. Daher folgt nun eine kleine Revue über all das, was mir während meines USA-Besuchs an literarischen, bibliophilen, comicbezogenen oder sonst mit interessanten Holzmedien zusammenhängenden Erkenntnissen unter gekommen ist. Das Ganze in Form von Thesen, die natürlich rein subjektiv sind und gerade durch ihre anekdotische Evidenz zu bestechen wissen.

These 1: Print lebt!

Ersteindruck am Flughafen in Washington DC: Die Zeitschriftenauswahl ist gigantisch und stellt diejenige der Zeitschriftenläden an den Flughäfen Frankfurt und München locker in den Schatten. Zuerst dachte ich: Okay, das ist ein riesiger Flughafen, da ist es nun mal so, dass die Auswahl größer ist. Aber dieser Eindruck verfestigte sich später: Selbst der kleinste Dorfkiosk in den Untiefen Virginias hatte sehr viel mehr verschiedene Zeitschriften im Sortiment als ein vergleichbarer Tante-Emma-Laden im nordrhein-westfälischen Niemandsland. Das führt natürlich dazu, dass unter der viel größeren Auswahl auch echte Exoten zu finden waren: So habe ich im Zeitschriftenbereich eines Supermarkts (!) gleich vier verschiedene Buddhismus-Fachzeitschriften gefunden. Enorm interessant – und hier nie gesehen. Jedenfalls nicht bei Edeka und Co.

These 2: Gesellige Buchriesen vertreiben ländliche Tristesse

Klar, man kennt das, da fährt man über die Autobahn und alle paar Kilometer kommt man an einem Thalia vorbei. Kennt man nicht? Hierzulande undenkbar, habe ich es in den USA während unseres Roadtrips dutzendfach gesehen, dass Barnes&Noble seine Filialen irgendwo im ländlichen Bereich an die Highways baut, inmitten von Baumärkten und Wal-Marts.

barnesandnoble

Das sah auf den ersten Blick sehr gewöhnungsbedürftig aus. Als wir dann mal genauer hinsahen und bemerkten, dass das hauseigene Café der Buchriesen-Filiale an einem Werktag um 22:30 immer noch prall gefüllt war, wurde uns klar: Buchriese hin oder her, in der ländlichen Tristesse übernahm der Barnes&Noble die Funktion einer sozialen Begegnungsstätte inmitten hunderter von Büchern. Das wünsche ich mir in kleinerer Form auch für den hiesigen ländlichen Raum…aber vielleicht nicht gerade von Thalia.

These 3: Wenig Verständnis zwischen Antiquariat und Neunter Kunst

Die Situation klassischer Buchantiquariate erscheint mit rückblickend mit der deutschen sehr vergleichbar: Die gutsortierten, schönen, mit der Zeit gehenden Antiquariate halten, trotz Barnes&Noble, Amazon und Co, die Stellung, auch in den Innenstädten, wenngleich natürlich vereinzelt. Zwei Umstände fielen mir auf: Zum einen ist das typische Antiquariat in den USA, ob in Charlottesville, Annapolis, Philadelphia oder New York, angenehm unaufgeräumt, wuseliger und mit Büchern stärker vollgepackt als hierzulande. Der von Büchern überquellende, unordentliche Buchladen, der von einem Nickelbrille tragenden älteren Herren im Tweed-Sakko geführt wird – ja, sowas scheint es in den USA tendenziell häufiger zu geben als hier. Dafür sind die Preise, was Bücher angeht, im Gegensatz zu hiesigen Gefilden in den Antiquariaten nicht viel niedriger als im Erstverkauf.

zweimalhowardzinn

Zum anderen scheint der vielbeschworene – und man verzeihe mir hier den Begriff – “Graphic-Novel-Boom” in den Antiquariaten noch nicht angekommen zu sein. Während ich hier im öffentlichen Bücherregal schon Comics fand und zwei meiner liebsten modernen Antiquariate hier in Münster regelmäßig Comics im Angebot haben, fielen diese in den US-Lädchen fast komplett aus. Dass es das literarische Grundwerk neben einer grafischen Adaption im gleichen Laden gab, kam nie vor – so musste ich mir die beiden Klassiker von Howard Zinn aus verschiedenen Antiquariaten zusammensuchen. Der Comicblindheit vieler Antiquare war es auch zu verdanken, dass ich in der hinterletzten Ecke eines wunderschönen Antiquariats in Philadelphia ganze sieben Originalhefte der 1986er-Watchmen-Serie gefunden habe, scham- und achtlos dort liegen gelassen, inmitten eines aussortierten Kartons voller alter Comics. Kostenpunkt: 10,50 $. Zusammen. Ich habe nicht lange überlegt.

watchmen

Natürlich durfte auch ein Besuch bei “Midtown Comics” und “Forbidden Planet” nicht fehlen, den (scheinbaren) Tempeln der Comickunst. Aber das wäre zu viel gesagt: Etwas enttäuscht war ich, als mir klar wurde, dass diese Läden, wie alle anderen, kleineren US-Comicshops, in denen ich war, zu 95% Superheldencomics führen. Eine Biographie in Panelform, eine literarische Comicadaption, ein schwarzweißes Indiecomic, irgendwas Frankobelgisches – Seltenheiten, leider. Die Amis stehen nun mal primär auf Supie, Spidey und Co. Das ist nicht schlimm. Aber zum Stöbern in abwechslungsreicheren, internationalen (Autoren)-Comics lobe ich mir dann doch hiesige Comicläden wie Neunte Kunst in Osnabrück oder den Groben Unfug in Berlin.

These 4: Strand Books ist das Paradies auf Erden

“18 miles of books!” – Ungläubig schaute ich in den Reiseführer, wo das “größte Antiquariat der Welt”, das mit diesem Slogan wirbt, vorgestellt wurde. Bücher auf 28,968 Kilometern erwarten den Besucher von Strand Books in New York City allerdings nicht, oder jedenfalls wohl nur dann, wenn man die Bücher alle aneinander legt. Was die Quadratmeteranzahl oder die Länge der Gänge angeht, kann diese Zahl nicht stimmen – dennoch ist der “Strand” gigantisch. Man muss es sich vorstellen wie zwei Thalias übereinander, nur in sympathisch. Und, der Clou: Ausschließlich mit antiquarischen Büchern. Es war wundervoll. Madame und ich sind gleich zwei Mal dorthin gefahren, trotz sehr knapp bemessener Zeit im Big Apple. Freundliches Personal, ein hervorragendes Ordnungssystem, ein ganzes Stockwert nur für “rare Books” –  Strand Books bietet alles, was das bibliophile Herz begehrt.

strandbookstreet

Kurz habe ich darüber nachgedacht, alle Zelte hier in Deutschland abzubrechen, nach NY zu ziehen und bei Strand Books anzuheuern. Ich würde in diesem Himmelreich des Buches jeden Job machen, auch putzen. Notfalls mit einer einzigen Zahnbürste. Um so mehr Zeit dürfte ich im Paradies verbringen.

Expressionistische Sequenzen–Chagall in Russland

Leider hatte ich Zeit meines Schülerlebens nur schlechte Kunstlehrer und Kunstlehrerinnen. Es ist somit nicht allzu viel Wissen zu Künstlern und Kunstgeschichte hängen geblieben. Ein Umstand, den ich heute sehr schade finde. Glücklicherweise bieten Künstlerbiographien in Comicform die Möglichkeit, die eine Leidenschaft mit dem anderen, wachsenden Interesse zu verbinden. So kam es, dass ich nach dem starken “Munch” ein anderes Werk aus dem avant-Verlag las, das ebenfalls vordergründig eine Künstlerbiographie ist: “Chagall in Russland” aus der Feder des französischen Zeichners und Szenaristen Joann Sfar.

chagallrussia

Joann Sfar ist eine Größe der Comicszene, und nicht nur der frankobelgischen. Er schreibt und zeichnet und malt für jedes Alter: Seinen “Vampir” lieben Kinder, seine Mitarbeit an “Donjon” begeistert Jugendliche und sogenannte “junge Erwachsene” und Arbeiten wie “Klezmer” oder “Die Katze des Rabbiners” erfreuen sich einer erwachsenen Leserschaft. “Die Katze des Rabbiners” habe ich sehr gern gelesen, auch wenn mir der Stil zunächst nicht allzu gut gefiel. Meine persönliche Antipathie gegen allzu Cartoonhaftes wurde dabei aufgrund der exzellenten Erzählung, der grandiosen Dialoge und der vielen philosophischen Inhalte mehr als aufgewogen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei “Chagall in Russland”: Sfar beschreibt einen fast noch jugendlichen, verträumten Marc Chagall, der bereits ein bekannter und aktiver Maler ist, seine Heimat Witebsk im heutigen Weißrussland aber noch nicht gen Paris, ins Mekka der damaligen Kunstszene, verlassen hat. Die Geschichte ist so einfach wie verrückt und verträumt, und damit sowohl zu Sfar als auch zu Chagall passend: Der Künstler liebt ein Mädchen, das die Liebe nicht erwidert und versucht nun, ihr Herz zu gewinnen, indem er ein jüdisches Theater organisiert. Allein aufgrund des Umstands, dass Sfars Chagall dabei von einem grünhäutigen Jesus Christus, einem Pferde und Menschen abschlachtenden Golem und einem kommunistischen Klezmerspieler begleitet wird, zeigt, dass Sfar dann doch keine Biographie verfasst hat: Der hier dargestellte Chagall hat auf der Handlungsebene bis auf die Herkunftsstadt und den jüdischen Kulturkontext nichts gemein mit der historischen Persönlichkeit.

panelschagall

Ist das schlimm? Nein, keinesfalls. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erwartung, eine wahrheitsgetreue Künstlerbiographie zu lesen, gebrochen wird, verspricht “Chagall in Russland” echte Lesefreude. Und dass das Werk etwas völlig anderes und mitnichten historisch bierernst vorgeht, hätte ich mir bereits bei dem Namen des Autors denken können.

Sfar nutzt auch hier seinen stets überzeichnenden, wenig akkuraten, schraffurintensiven, cartoonähnlichen Stil. Doch alles passt hier zusammen: Die Farben sind so intensiv (quietschgrüner Jesus!), dass man nicht umhin kommt, die Parallele zum Expressionismus Chagalls zu sehen, die Emotionen sind so direkt dargestellt, dass der höchst optimistische Charakter Chagalls deutlich zur Geltung kommt. Allein die extrem strenge Panelstruktur von 3×2 Panels pro Seite, die nicht ein einziges Mal gebrochen wird, widerspricht ein wenig dieser Näherung auf der Bild- und Farbebene.

chagallparis

Dennoch lässt sich festhalten: Sfar nähert sich Chagall nicht historisch, sondern emotional. Und diesen emotionalen Näherungsprozess kann der Leser durch die gesamte, turbulent-verrückte Geschichte nachvollziehen.

Das Werk macht insgesamt jede Menge Lust auf mehr. Lust auf mehr von Chagall. Aber auch auf mehr von Sfar.

Die Sache mit Sorge

“Heute machen wir Geschichte! Ich, Richard Sorge, werde Hitler besiegen!”

Geschichten über das Dritte Reich wirken häufig abgedroschen, da sie scheinbar alle schon einmal erzählt wurden. Anders verhält sich dies bei wahren Geschichten, die auch noch gut recherchiert wurden. Richtig spannend wird es meiner Meinung nach dann, wenn eine wahre Geschichte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, der Ort der Handlung allerdings nicht in Europa liegt, sondern woanders auf unserem (nicht nur) zu dieser Zeit kriegsgebeutelten Planeten. Genau dies ist das Setting des 2008 bei Carlsen erschienenen Comics “Die Sache mit Sorge” von Isabel Kreitz.

Die Geschichte spielt zu Beginn der 1940er Jahre in Tokio, hauptsächlich an der dortigen deutschen Botschaft. Ein derartiger Perspektivwechsel – weg vom häufig eurozentrisch erzählten Krieg in unseren Gefilden – ist höchst lehrreich: Man gewinnt deutlicher als sonst den Eindruck, dass der Krieg ein wahrer Weltkrieg war, dass der Schrecken des nationalsozialistischen Terrorregimes bis in die “entlegensten” Ecken vordrang. Allein dafür, aus dieser Geschichte, die fernab von den Geschehnissen in Deutschland spielt, einen 240 Seiten starken Comic gemacht zu haben, gebührt Isabel Kreitz Dank.

coversorge

Protagonist der Sache mit Sorge ist der Deutsche Dr. Richard Sorge, vordergründig Journalist, tatsächlich jedoch russischer Spion, der das uneingeschränkte Vertrauen des deutschen Botschafters in Tokio erlangen konnte und daher bei der Botschaft ein und aus ging. So war es Sorge, der Stalin vor dem Überfall der Wehrmacht auf Russland (“Unternehmen Barbarossa”) warnte – wie sich herausstellte ein Kassandraruf. Kreitz’ Werk zeichnet das Wirken des Kommunisten Sorge in den Kriegsjahren nach und geht dabei nicht nur auf die politischen und spionagebezogenen realen Vorkommnisse ein, sondern nimmt sich auch viel Raum für die private Geschichte hinter dem Meisterspion Sorge. Seine Beziehung zu der begnadeten Musikerin Eta Harich-Schneider – eine von vielen Frauen, mit denen der Frauenschwarm Sorge anbandelte – steht im Zentrum der Geschichte. Dennoch ist die Politik, dennoch ist die Gefahr stets präsent. Das erzeugt von Beginn an Spannung, die über das gesamte Geschehen hinweg erhalten wird.

sachemitsorge

Kreitz wählte einen naturalistischen Zeichenstil für die ganz mit Bleistift bzw. Graphit erstellten Panels. Eine Optik, die mir an sich weniger gut gefällt, hier jedoch aufgrund der ernsten und ruhig erzählten Geschichte stets stimmig ist. Die Panelstruktur ist geradlinig, selten nur finden sich Brechungen, was zur linearen, niemals sprunghaften Erzählweise passt. Allerdings greift Kreitz beim Vorantreiben des Plots auf einen interessanten Kunstgriff, den man vor allem aus TV-Dokus kennt: Die Personen, die in der damals geschehenen Kerngeschichte auftreten, werden immer mal wieder in ihrem heutigen Alter gezeigt und kommentieren das historische Geschehen aus der Gegenwart heraus. Das klingt nach lahmer Guido-Knopp-Doku, ist aber weitaus feinfühliger umgesetzt.

Ein Kritikpunkt ist die nicht übersetzte Nutzung des Japanischen: In vielen Panels treten japanische Spionageabwehragenten auf, während sich die Schlinge um den Spionagering Sorge enger zieht. Diese Agenten sprechen in ihrer Muttersprache, was realistisch ist und Atmosphäre schafft. Leider übertreibt es Kreitz ein wenig damit; nach einigen Seiten möchte man dann doch gern erfahren, was die Herren zum Beispiel bei den Verhören von Sorges japanischen Zuarbeitern zu sagen haben.

Insgesamt ist “Die Sache mit Sorge” ein höchst lesenswerter und vor allem lehrreicher Band. Ein umfassender Anhang mit Fotos des realen Sorge und mit weiteren biographischen Informationen zu den Personen runden das Comic ab. Eine echte Kaufempfehlung.