Munch!

Comicbiographien haben momentan Hochkonjunktur. Alle werden sie in kleine oder große Bildchen gepackt und mit Sprechblasen versehen: Freud, Kafka, Schiele, Castro, Chagall (naja…ein wenig, Joann Sfar halt, dazu demnächst mehr), Wagner, Nietzsche, Thoreau… Natürlich nehme ich diese Entwicklung mit Freude auf und verkünde: Ich will sie alle lesen und rezensieren! Challenge accepted!

Die Biographie ist jedoch ein Genre, das mich zwar immer schon gereizt hat, das allerdings aufgrund verschiedener Aspekte schwer zugänglich ist: Eine Biographie schimmert immer nur durch die Linse des Biographen, eine Autobiographie leidet an der notwendigerweise selektiven Wahrnehmung des sich selbst beschreibenden Schreiberlings. Ein über alle Maßen positives Beispiel der Gattung “Autobiographie” ist Stefan Zweigs “Die Welt von Gestern”. Im Idealfall, und Zweigs Werk stellt meiner Meinung nach diesen Idealfall dar, lernt man bei der Lektüre einer Biographie / Autobiographie nicht nur eine Menge über die beschriebene Person und ihr Leben, sondern auch über die Zeit, in der der Beschriebene lebte, über die Gedankenwelt seiner Zeitgenossen und die damalige Kultur.

Verglichen mit diesem Anspruch waren meine Erwartungen an die Comicbiographie “MUNCH” von Steffen Kverneland gelinde gesagt…beträchtlich.

covermunch

Als ich das Buch auspackte (“Unboxing”, wie es neudeutsch heißt, demnächst mache ich dazu YouTube-Videos…nicht), war ich überrascht: Ich hatte mit einem viel dünneren Werk gerechnet, und zwar mit einem Tradepaperback. Weit gefehlt: “Munch”, erschienen im kleinen, aber höchst feinen und anspruchsvollen avant-Verlag, ist ein 270 Seiten starkes Hardcoverbuch in Übergröße, dessen Verarbeitung hohen bibliophilen Ansprüchen genügt. Es fehlt eigentlich nur noch das Lesebändchen und der Schuber, um mal ein paar Klischees zu bedienen.

Der Landsman des großen norwegischen Expressionisten Edward Munch, Steffen Kverneland, der sich für Idee, Konzept, Text, Zeichnungen, Farben – also für einfach alle Bereiche des Comics – verantwortlich zeichnet (haha, der Zeichner zeichnet sich verantwortlich…), hat mit “Munch” ein hochinteressantes Werk vorgelegt.

Das liegt an sage und schreibe gleich drei Kunstgriffen:

1. Kverneland beschreibt sich selbst während des kreativen Schaffensprozesses bei der Entstehung von “Munch”.
2. Kverneland beschreibt, wie die Meisterwerke Munchs entstehen – und pflanzt diese als von ihm selbst detailliert nachgemalte „Originalbilder“ direkt in die Panels.
3. Kverneland lässt ausschließlich historische Persönlichkeiten in ihren eigenen Worten sprechen – sei es Munch selbst aus seinen Briefen oder seien es Auszüge aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln.

munchpanel

Klingt überladen, klingt zu ambitioniert, klingt nicht umsetzbar. Kann niemand schaffen.

Sicher? Nein, Kverneland hat es geschafft: “Munch” ist nicht nur gut gelungen, es ist Kvernelands Meisterstück. Selten habe ich mich bei der Lektüre der Beschreibung einer Person und ihres Lebens dieser so nahe gefühlt, selten habe ich auf gleich mehreren Ebenen so viel über den Prozess des kreativen Schaffens gelernt.

Traumwandlerisch sicher spielt Kverneland mit Cartoonhaftem, mit Selbstironie, Überzeichnung, Detailtreue, Dialog und Handlung sowie mit der Gedanken- und der physischen Welt: Alles ist verworren und komplex, aber zwielichtig und wunderschön. So wie die Bilder Munchs, so wie seine Seele.

Kvernelands “Munch” ist nicht nur ein Comic. “Munch” ist ein Meilenstein.

Na, können Wagner, Kafka, Thoreau und Co das toppen? Ich bin gespannt, was da noch kommen mag.

Apokalyptische Bildfolgen

Der momentane Boom für Comics und sogenannte Graphic Novels beschert uns seit einigen Jahren in schöner Regelmäßigkeit wahre Meisterwerke der Neunten Kunst. Das hängt auch damit zusammen, dass sich das Medium – bzw. die daran Beteiligten, die Autoren, Zeichner, Verleger – mehr trauen: Buchstäblich alles kann Stoff für ein Comic sein, jede Literaturgattung ist adaptierbar. Wie sagt Scott McCloud zu Recht? Die Möglichkeiten des Comics sind unbegrenzt.

Der beschriebene Boom führt jedoch auch dazu, dass in der Vielzahl der ambitionierten Projekte gelegentlich das Ziel verfehlt wird. So leider auch, zumindest für mich ganz persönlich, bei “Das Buch der Offenbarung” von Matt Dorff und Chris Koelle. Das Werk ist auf deutsch im ansonsten von mir geschätzten ATRIUM-Verlag erschienen.

Die beiden US-Amerikaner Matt Dorff (Szenarist) und Chris Koelle (Zeichner) haben sich einen der bekanntesten Texte der Weltliteratur vorgenommen: Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes.

offenbarung

Der Clou bei dieser Form der grafischen Adaption ist: Der Text wurde nicht verändert. Auf deutsch in der Übersetzung Martin Luthers, enthält das Comic den gesamten Text der biblischen Offenbarung, soweit ich das ersehen kann ungekürzt. Positiv daran ist, dass damit ein interessanter neuer Ansatz verwirklicht wurde: Das zu adaptierende Grundwerk wird belassen, der Text des Originals kommt unverändert zu Wort, der Autor des Grundwerks ist damit gleichzeitig Szenarist des Comics. Dieser Ansatz ist spannend und sollte künftig noch weiter verfolgt und erprobt werden.

In Dorffs / Koelles “Offenbarung” funktioniert dies hingegen meiner Meinung nach nicht. Der Text der Offenbarung ist zutiefst symbolisch, höchst inkohärent und damit durchweg kryptisch. Ich gebe zu, dass ich bei weitem kein Theologe oder bibelfester Gläubiger bin, aber ich denke, ein solches Werk sollte den Anspruch haben, auch für den aufgeschlossenen, an religiösen Texten Interessierten zugänglich zu sein. Das Problem hier: Der ohnehin inhaltlich parzellierte Text wird durch die Panels noch stärker verzerrt.

Nichts gegen Koelles Fertigkeiten am Zeichenbrett: Koelles Bilder sind durchweg von epochaler Wucht, glänzend gezeichnet und meisterhaft koloriert. Leider jedoch – und es scheint, wie der Anhang andeutet, liegt dies an den Vorgaben Dorffs – ist das gesamte Werk von einem dauerpräsenten Pathos durchzogen, von einem verherrlichenden Unterton, der zwischen Gewalt und Erlösung nicht unterscheidet. Dies verstärkt den Eindruck des reinen Texts, nimmt der Bildebene aber viele Möglichkeiten. Es wird keine Geschichte erzählt – die Panels hängen, genau wie Sequenzen des Texts, im Raum und nicht bzw. nur stellenweise zusammen. Eine – nicht zwingend ironische – moderne Brechung irgendeiner Art findet in den Bildern Koelles nicht statt.

offenbarung-panels

Erhofft habe ich mir, dass – eventuell auf einer gerade hier mehr als notwendigen narrativen Metaebene, vielleicht aus dem Munde des historischen Johannes – bestimmte kulturelle Topoi, wie die satanische Zahl “666”, erläutert werden. Der Grundaufbau des Comics als mit epischen Bildern unterlegte Textwiedergabe erlaubt dies nicht.

Ich kann dieses Comic jedem empfehlen, der ein Sonderinteresse an der Bibel und insbesondere an den großen biblischen Plagen, der Apokalypse bzw. dem Harmagedon hat. Doch darauf beschränkt es sich.

Großes Lob gebührt den Machern jedoch für ihren Mut. Scheitern gehört dazu, will man das Medium Comic ausloten und weiterführen.

Von Äxten und Büchern

Der gestrige Abend war äußerst lehrreich: Mein guter Freund Tilman von 54books und ich wurden, in Form unseres Projekts Buchguerilla, wegen ein paar Tweets als “klassistische Sexisten” beschimpft. Da es dabei auch und vor allem um die Literatur-Blogosphäre und die Gretchenfrage nach guten und schlechten Büchern ging, bieten die Vorkommnisse ausreichend Grund, das Thema nochmal aufzugreifen.

Alles begann mit vor allem zwei maßgeblichen Tweets, die wir vom Account @Buchguerilla abgeschickt haben. Die Buchguerilla ist seit Beginn bereits vom Titel her ein augenzwinkernd gemeintes Projekt, das sich – in ganz bewusster, ironischer Zuspitzung – als Vorläufer einer Revolution gegen das böse eBook sieht, für echte Bücher und echte, gute Literatur. Dazu erscheinen auf der Seite der Buchguerilla Beiträge, auch von Gastrezensenten, die alle Meinungen zulassen: Pro und kontra eBooks, pro und kontra E- und U-Literatur. Wir wollen nur diskutieren.

Das ist der Kontext. Aus dieser Melanche heraus entstand zunächst folgender Tweet:

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Bereits der Einstieg mit den Worten “Wir wollen eine Welt ohne Menschen, die…” zeigt, dass es sich ganz offensichtlich um einen humorvoll-polemischen Tweet handelt. Leider ist daraus eine Diskussion entstanden, die in einem beleidigenden Blogpost gipfelte, der sich nicht zu schade war, gleich zwei Personen mir nichts, dir nichts mit mehreren “-istisch”-Labels zu versehen. Da mir erstmals in meinen 27 Erdenjahren Sexismus vorgeworfen wurde, verspreche ich, mich in das Thema einzulesen und offen zu sein für zutreffende Kritik, eine mögliche Änderung meiner Ansichten eingeschlossen.

Bis dahin jedoch gehe ich vom sehr viel Naheliegenderen aus: Dass es sich bei der ideologischen Reaktion der besagten Dame um das Paradebeispiel eines confirmation bias handelt.

Interessanter noch ist dagegen schon der 2. Tweet, der andere Stein des Anstoßes:

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Auch bei diesem Tweet sei noch einmal auf den Hintergrund hingewiesen. Wer heutzutage einen oder – wie in unserem Fall – gleich mehrere ambitionierte Buchblogs betreibt und das Wort “Schundliteratur” in den Mund nimmt, kann es nicht ernst meinen. Wir halten es da mit Tucholsky: “Was darf Satire? Alles!”

Doch die oben genannte Dame sieht auch hier ein großes Problem und bezeichnet uns, die Jungs hinter der Buchguerilla, als “klassistisch”. Wir gehören also einer bestimmten “Klasse” an (ich dachte, dieses Denken sei ausgestorben, man spreche höchstens noch von Milieus, aber das ist ein anderes Thema), weil wir – Achtung, anschnallen! – keine Schundliteratur lesen. Umgekehrt heißt dies, das Personen einer niedrigeren Klasse im Mittel weniger dazu in der Lage sind, “gute Literatur” zu lesen. So weit, so absurd.

Doch was ist das eigentlich, Schundliteratur? Eines möge man mir bitte glauben: Als erklärter Freund von Comics und Graphic Novels, der auch mit Vorliebe den ein oder anderen Fantasyroman liest und Spielarten wie ScienceFiction, Horror und SteamPunk zugetan ist, weiß ich sehr wohl, was angebliche Schundliteratur ist. Und wie man sich fühlt, wenn jemand die eigenen Lieblingsbücher als Schundliteratur abtut. Das muss man aushalten. Man muss sich aneinander reiben wagen, will man Funken schlagen.

Da das Internet voll ist von Blogs mit Namen wie “Traumprinzessins Schmökerstübchen (zu weiteren wundervollen Namen gleich mehr), schrieb Tilman einen meiner Meinung nach gelungenen Beitrag zum Thema: Eure Vampire-Romance-kotzt-mich-an. Natürlich kann man Literatur bewerten: Dafür gibt es Kriterien. Es existiert eine ganze Fachdisziplin von Wissenschaftlern, die sich mit Literatur befassen. Das nennt man Literaturwissenschaft. Schöpferisch wertvolle, innovative, sprachlich-ästhetisch gelungene Literatur, und solche Texte, auf die das nicht zutrifft, sind objektiv-kriterial unterscheidbar.

Es gibt immer Ausnahmen, aber im Durschnitt erreicht ein selbstverlegtes eBook mit dem Titel “Die Armee der Gestaltwandler greift an” oder “Zahnarztfrau Tina im Katzenkinderglück” nicht die gleiche Schöpfungshöhe wie Dostojewskis “Spieler” oder Spiegelmans “MAUS”.

Was folgt daraus? Gar nichts! Jeder darf lesen, was er will. Jeder soll seinen Blog betreiben, wie er möchte. Im Zweifel führt Lesen glücklicherweise zu mehr Lesen. Aber: Wegen ein paar zugegebenermaßen leicht provokativer Tweets sollte man die Kirche im Dorf lassen.

Da Kafka, schon zu Lebzeiten ein großer Feind von KatzenKuchenBücherBlogs, heute 130 Jahre alt geworden wäre, schließe ich mit einem wunderbaren Zitat, abfotografiert von meinem Lieblings-T-Shirt:

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