Kommt ein Buch zum anderen: Mein Lesefluss am Beispiel fünf philosophischer Kurzrezensionen

Books are the quietest and most constant of friends; they are the most accessible and wisest of counsellors, and the most patient of teachers.
– Charles William Eliot

Jeder Lesefreund kennt das: Kommt ein Buch zum anderen. Kein Witz: Ein Buch inspiriert zum Lesen eines anderen, ähnlichen oder auch ganz anderen Buches. Dieses wiederum erweitert den Horizont erneut, weckt neues Interesse da, wo vorher keines war oder legt ein altes, verschüttetes Interesse frei. Dadurch wird wiederum die Lektüre eines weiteren, in irgendeiner Form artverwandten Buches angeregt. Dieses Buch verleitet seinerseits in der Folge wieder zu einem anderen. Und zu noch einem. Und noch einem.

Bei wahren Viellesern – und dazu gehöre ich mangels Zeit leider nicht – ist der Lesefluss ein reißender Strom, der dem Leser Unmengen an Lektüren zufließen lässt. Aber auch bei Personen, die viel, aber nicht besessen lesen, kann der persönliche Lesefluss ein mächtiges Gewässer sein, das dem Leser über Monate hinweg bestimmte Themen vorgibt.

Hiermit möchte ich einen Teil meines persönlichen Leseflusses der letzten Monate nachzeichnen. Der eigene Lesestrom hat natürlich Seitenarme – aber die Hauptlinie sah aus wie folgt:

Die Quelle:
Lew Tolstoi: Für alle Tage – Ein Lebensbuch

tolstoi-fuer-alle-tage-chbeck

Dieser Lesefluss entsprang zu Anfang nichts anderem als meiner Vorliebe für dicke, gebundene, haptisch und optisch ansprechende Bücher. So ging ich durch Bücher Wenner in Osnabrück und hielt plötzlich zum ersten Mal Tolstois “Für alle Tage” in den Händen. Dabei handelt es sich um einen ewigen Kalender in Buchform: Tolstoi war bestrebt, die Weisheit der Welt und ihrer großen Denker zu konservieren und für die tägliche Lektüre aufzubereiten. So gibt es Tages-, Wochen- und Monatslektüren, die zumeist aus Aphorismen, aber auch aus kurzen Geschichten, Bibelstellen, Anekdoten und Gleichnissen bestehen. An vielen Stellen erreicht Tolstoi das Anstrebte in der Tat: Ich wurde zum Nachdenken angeregt.

Wie führt diese Quelle nun zur ersten Flussbiegung? Ganz einfach: Einige der im Buch vorkommenden Aphorismen stammen von keinem geringeren als Michel de Montaigne. Dies waren die Aphorismen und Anekdoten, die mir am besten gefielen. Also musste eine Montaigne-Biographie her.

Erste Flussbiegung:
Sarah Bakewell: Wie soll ich leben? Oder das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten

sarah-bakewell-michel-de-montaigne

So hat der gute alte Tolstoi mich also zum guten alten Montaigne gebracht. Bakewells Montaigne-Biographie ist mein bisheriger Höhepunkt des Lesejahres. Meine Eindrücke von Montaigne und seinem Leben habe ich bereits in dieser Rezension zu Papier gebracht.

Doch wie führte Montaigne zu der nächsten Flussbiegung? Welchen literarischen Impuls nahm ich aus Bakewells grandioser Biographie mit? Montaigne war ein wirkmächtiger Philosoph, so verwundert es nicht, dass mein Interesse an der Philosophie, das immer präsent, aber etwas länger nicht aktiv war, geweckt wurde. Montaigne war (zunächst) überzeugter Stoiker, also musste etwas zu stoischer Philosophie her.

Zweite Flussbiegung:
William B. Irvine: A Guide to the Good Life – The Ancient Art of Stoic Joy

a-guide-to-the-good-life-irvine

Es gibt nur sehr wenig Einsteigerliteratur zur hellenistischen Philosophie. Zwar gibt es Unmengen an Textsammlungen von Seneca, Marc Aurel, Epiktet sowie auch Epikur und anderen. Im speziell stoisch-philosophischen Bereich – ich wollte ja Montaigne nachfolgen – wurde im WWW vor allem Irvines “A Guide to the Good Life” angepriesen. Gesagt, getan, gekauft, gelesen.

Irvine, Philosophie-Prof aus den USA, konzentriert sich auf die Ein- und Ansichten von Seneca, Epiktet, Musonius Rufus und Marc Aurel, also vor allem auf die späte Stoa. Wer sich auch nur im Ansatz mit der Philosophie des guten Lebens befasst, kommt um die Stoiker nicht herum. Irvine schafft es, das Kondensat der stoischen Gedankenwelt knapp zusammenzutragen und darüber hinaus für das 21. Jahrhundert lebbar zu machen.

Nach diesem Leseerlebnis wollte ich mehr über die Philosphie der Stoa erfahren. Es musste dazu doch auch eine deutsche Publikation geben. Oder?

Dritte Flussbiegung:
Andreas Urs Sommer: Die Kunst der Seelenruhe – Anleitung zum stoischen Denken

andreas-urs-sommer-die-kunst-seelenruhe-beck

Eine “Anleitung zum stoischen Denken” verspricht Sommer, ebenfalls Philosophie-Prof. Deutschsprachige Publikationen zur stoischen Philosophie gibt es nur sehr wenige, soweit es sich um Einsteigerlektüren handelt. Ich hatte gehofft, mit dem Sommer eine Art deutsches Pendant zum oben besprochenen Irvine zu finden. Leider Fehlanzeige: Sommer schreibt nicht die versprochene Anleitung, sondern ein hochartifizielles Werk, das eine Menge Vorwissen voraussetzt und sich nicht einmal bemüht, die Grundlagen der stoischen Ethik aufzuzeigen, sondern direkt mit der Aktualisierung der antiken Lehre startet, ohne die Hintergründe auszuloten. Stattdessen gibt es bei Sommer viele religionskritische Exkurse, die auch glänzend begründet sind, sich nur leider nicht gut in den Rest des Buches einfügen.

Man merkt es: Ich war ein wenig enttäuscht. Der Fluss musste eine neue Biegung machen. Hat nicht Montaigne, der immer noch nachhallt, Essays geschrieben? Bin ich nicht an Literatur und Geschichte interessiert? Kurzerhand kam ich zu Kurzke, der all das verbindet.

Vierte Flussbiegung:
Herman Kurzke: Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur – und andere Essays

herman-kurzke-geschichte-deutsche-literatur

Was hat Christa Wolf mit verschimmeltem Brot zu tun? Und wie kommt man von Mangas auf Flaubert?

Herman Kurzke, seines Zeichens Literaturwissenschaftler und Theologe, kennt die Antwort. Das Buch besteht aus fünf Teilen: Zunächst “Kurzkes Kanon”, in dem er seinen persönlichen Reigen an lesenswerter Literatur benennt, danach folgen sein bekanntes Essay “Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur” sowie einige Porträts bekannter oder weniger bekannter Autoren. Dabei macht Kurzke keinen Hehl daraus, dass für ihn Thomas Mann im Zentrum seiner Liebe zur deutschen Literatur steht. Den vierten Teil bilden persönliche Essays, die nicht einem bestimmten Werk oder Schriftsteller gewidmet sind. Dazu gehört das lesenswerte Kleinod “Die Bibliothek als Lebensspiegel und Seelenraum”, mit dem sich Kurzke als Bibliophilen ausweist. Schließlich heißt der letzte Teil “Vermischtes”, wo es um so unterschiedliche Themen geht wie Kirchenlieder, Märchen und Psychoanalyse.

Wenngleich Kurzkes Essays mir eine Tonlage zu konservativ anmuten, sind sie doch in jedem Falle lehrreich – sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Das einzige große Manko ist meiner Meinung nach, dass Kafka gänzlich fehlt.

Und jetzt?
Die vierte Flussbiegung ist nicht die letzte. Die literaturhistorische Essaysammlung von Kurzke hat mich, wie sollte es im Lesefluss anders sein, zu meinem nächsten Buch (zumindest dieses Flussabschnitts) angeregt: “Paare, Passanten” von Botho Strauß. Strauß’ Sammlung von Kurzprosa und Fragmenten hebt Kurzke sogar noch über Böll und Grass.

Da muss etwas dran da. Das könnte eine Perle sein, die man entdecken könnte. Ein Schatz, den es zu heben gilt. Vom Flussbett.

James Joyce – Biographie als Comic: Innenansichten eines Genies

Porträt eines Dubliners

Am 16. Juni dieses Jahres steht ein besonderes Ereignis vor der Tür. Nein, ich meine nicht das erste Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM, sondern den Bloomsday, der sich am 16. Juni zum 110. Mal jährt. Nachdem ich vor einiger Zeit das Projekt #ReadingUlysses ins Leben rief, freue ich mich immer über jeden Informationsfetzen, den ich über den großartigen James Joyce in die Finger bekommen kann. Als dann vor kurzem bei Egmont eine Comicbiographie über das Genie aus Dublin erschien, war klar, dass daran kein Weg vorbei führte.

James-Joyce-Cover-Biographie

Illustrierte Lebenswege

Der spanische Comickünstler Alfonso Zapico zeichnet mit „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ mit viel Liebe zum Detail das unstete Leben von Joyce nach. Dabei verbindet er zwei scheinbar gegensätzliche Welten: Die ganz klassische Biographie mit dem Comic. Zapico beginnt bei Adam und Eva, indem zunächst einmal der Urgroßvater des kleinen James zu Wort kommt. Das Comic endet mit Joyces Tod und mit einigen Gedanken zum künstlerischen Nachhall des großen Dubliners. Dazwischen wird Joyces Leben streng chronologisch nacherzählt – und genau so, wie Joyce das Leben, den Alkohol, die Frauen und das Schreiben und vollen Zügen genoss, merkt man, dass Zapico gr0ße Freude an der Schaffung dieses Comics hatte.

Joyce wächst in Dublin auf, und auf den ersten Seiten lernen wir seine schwierige Familie und seine nicht minder komplizierten Schulfreunde kennen. Bei der Vielzahl der Personen, die Joyce auf seinem Lebensweg begleitet haben, kann man schnell den Überblick verlieren, sodass Zapico alle wichtigen Personen jeweils einzeln in einem kleinen Panel vorstellt:

James-Joyce-Bio-Comic-2

Joyce hat einen großen Verschleiß an Freunden, Weggefährten, Verlegern, Sympathisanten, Feinden, Saufkumpanen und vor allem Frauen, sodass diese Technik der Personenbeschreibung dem Comic sehr gut tut. Relativ früh in seinem Leben lernt Joyce jedoch Nora Barnacle kennen, die von da an die große und – neben der Literatur – einzige Konstante in Joyces Leben sein wird. Mit dem jungen Paar erlebt der Leser eine Odyssee (ja, richtig gelesen) durch verschiedenste europäische Städte, bei der sich Joyce künstlerisch immer stärker von der althergebrachten Literatur emanzipiert und schließlich (neben Franz Kafka) zu einem der wichtigsten Wegbereiter der modernen Literatur wird.

Getuschte Dynamik

Wir werden beim Lesen Zeuge, wie der Protagonist dieser lesenswerten Biographie schreibt, wenn er nicht im Bordell ist, im Bordell ist, wenn er nicht gerade mit Samuel Beckett in einer Bar sitzt, und wie er in einer Bar sitzt, wenn er nicht gerade schreibt. Joyce war unruhig und launenhaft, exzentrisch, arrogant, überheblich und doch liebevoll und verletzlich, glaubt man Zapico, und wir haben aufgrund der umfassenden Recherche des Autors allen Grund, ihm zu glauben.

Dieses hochdynamische Leben kleidet Zapico in ebenso lebendige Panels: Sein Strich ist nie starr, immer in Bewegung. Die getuschten Schwarzweiß-Zeichnungen gefallen mir, trotz einer latenten Abneigung gegen reines S/W, sehr. Wenngleich die Gesichter teilweise etwas zu cartoonig sind, besticht das Comic doch insgesamt durch einen enorm hohen Detailgrad. Zeichnerisch und in Bezug auf die Recherche eine echte Fleißarbeit von Zapico, den man dafür nur loben kann.

James-Joyce-Biographie-Comi

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: So sehr das Leben Joyces beleuchtet wird, so wenig wird inhaltlich über dessen Literatur gesprochen. Es wird nachvollzogen, wie Joyce seine berühmten Werke wie „A Portait of the Artist as a Young Man“, „Ulysses“ oder „Finnegans Wake“ schreibt, es fehlt dabei jedoch ein kleiner Ausflug in diese Werke hinein: Ich hätte mir ein paar Exkursionen in die Welt von Stephen Dedalus oder Leopold Bloom gewünscht, wenn auch nur für wenige Panels.

Fazit

Aber das ist Jammern auf hohem Niveau: „James Joyce – Porträt eines Dubliners“ ist eine gelungene Biographie über einen der interessantesten Autoren des 20. Jahrhunderts. Ich habe die 224 Seiten an einem Abend gelesen und war hin und weg. Aber auch für Personen, die nicht direkt zum Kreis der Joyceaner gehören, sei diese Comicbiographie ans Herz gelegt.

ReadingUlysses #3: Was für ein Buch!

Abschließende Besprechung und Fazit

“Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei.”

So beginnt James Joyces Monumentalepos “Ulysses”. Vor ziemlich genau vier Monaten begann ich die Lektüre dieses Buches und nun, nach einigen Höhen und Tiefen, großen und kleinen Lesepausen und genau 1078 Seiten später habe ich es abgeschlossen, beendet, ausgelesen, Dublin final verlassen. Im Folgenden möchte ich meine Leseeindrücke darstellen und dazu ermutigen, Joyces Ulysses selbst zu lesen. Dabei werde ich versuchen, mich möglichst stark von literaturprofessoralen Sentenzen, die ich irgendwo gelesen habe, zu lösen und einfach meine Meinung über das Buch wiederzugeben. Wohl wissend, dass jede kürzere Beschreibung des “Ulysses” scheitern muss.

Das Buch hallt nach. Nichts anderes würde man von einem “Meisterwerk” erwarten, und erst Recht der “größte Roman des 20. Jahrhunderts” sollte nachhallende Wirkung beim Leser auslösen. Sind diese Attribute jedoch gerechtfertigt? Ist Ulysses wirklich so großartig, wie ach so viele Literaturkenner behaupten?

Alles auf Anfang

Von vorne: Was, verdammt nochmal, ist Ulysses? Ein Ungetüm, ein literarisches Monster, aber mit einem guten Herzen, mit einem lohnenden Kern, eine Bestie, die einem zu Diensten ist, wenn man sie zähmt. Aber nur dann. Ulysses ist ein Roman, geschrieben vom irischen Schriftsteller James Joyce, der an nur einem Tag spielt, nämlich ganz zufälligerweise am Bloomsday, also dem 16. Juni 1904. Der Roman handelt, leicht verkürzt, davon, wie zwei Personen durch Dublin irren, sich abends in einem Puff treffen und dann bei einem von beiden tief in der Nacht noch einen Kakao trinken.

Vielmehr möchte ich zum Inhalt nicht sagen – jeder soll es selbst lesen. Zudem spielt der Inhalt im Ulysses keine große Rolle, irgendwo habe ich gelesen, es handele sich bei dem Buch um eine “plotless story”. Dem kann ich nur bedingt zustimmen, da durchaus etwas passiert – einer der beiden Protagonisten, Leopold Bloom, isst, trinkt, wandert umher, besucht Museum und Bibliothek, unterhält sich über so ziemlich jedes erdenkliche irdische und nichtirdische Thema, träumt, gerät in Erregung und Angst; vor allem aber marschiert er durch Dublin und wir sind live dabei.

Right inside his mind

Das jedoch sind nur die äußeren Fakten. Das Wesen von Ulysses liegt nicht in dem was passiert, sondern in der Art und Weise, wie die Protagonisten wahrnehmen, was passiert. Durch die Technik des stream of consciousness ist der Leser so dicht dran an den Gedanken und der Gefühlswelt der jeweiligen Person, dass jedwede Vermittlerrolle wegfällt, einen Erzähler gibt es im Ulysses nicht.

Allerdings hat all dies auch Nachteile: Die Irrungen und Wirrungen in den Gehirnen dieser Welt sind komplex, absonderlich, völlig absurd, selten geordnet, höchst intim, bizarr und unverständlich – die Gedanken sind frei. Genau so ist Joyces Sprache: Scheinbar wirr, scheinbar ungeordnet, und dabei doch nur der möglichst großen Annäherung an die sprachliche Abbildung menschlicher Gedankenströme verpflichtet.

Das ist spektakulär. Wer sich wahrhaft auf die Suche macht nach dem, was da eigentlich passiert, wer Ulysses ernst nimmt und die nötige Zeit investiert, der wird definitiv belohnt werden. Jedoch ist es auch dann nicht einfach, das Riesenwerk durchzuackern. Das Wichtigste dürfte die Einhaltung des überall im Zusammenhang mit Ulysses zu lesenden Tipps sein, einfach auch mal ein paar Seiten zu überblättern – das ist hier sicherlich keine Schande. Man muss sich Ulysses zu eigen machen, auf seine ganz eigene Art, irgendwie – und wenn man es von hinten nach vorne liest.

ulyssesfrominside

Sehr hilfereich fand ich die kommentierte Fassung aus dem Suhrkamp-Verlag, herausgegeben und kommentiert von Dirk Vanderbeke et al, Frankfurt 2004. Diese Kommentierung basiert auf der hochgelobten Übersetzung von Hans Wollschläger aus dem Jahre 1975. Im englischsprachigen Original hätte ich nur die Hälfte, in der deutschen Version ohne Kommentare wohl nur zwei Drittel dessen verstanden und mitgenommen, das ich auf deutsch und durch die Kommentierung verstand und mitnahm. Und das sind vielleicht 10% von dem, was im Ulysses steckt.

Was bleibt

Das Ende des Werks setzte dieser ungewöhnlichen Leseerfahrung die Krone auf: Nach vielen sehr humorvollen, absonderlichen Szenen, nach vielen Begegnungen mit allerlei komischen Käuzen im Dublin des Jahres 1904, beschlich mich in den letzten beiden Kapiteln ein Gefühl der Melancholie. Leopold Bloom kehrt spät in der Nacht zurück zu seiner ehebrecherischen Frau Molly, mit der er nur noch das Gerüst einer ehemals glücklichen Ehe führt. Es wird klar, dass die Ereignisse des Tages vom 16.06.1904 nichts Besonderes im Leben von Bloom waren, dass “nur” der Alltag abgebildet wurde – und dass es für Bloom und Molly immer so weiter gehen wird. Bloom kann, anders als der literarische Odysseus, die Freier seiner Frau nicht töten und die Herrschaft über sein Reich wieder an sich reißen. Bloom ist kein Odysseus, Bloom ist ein Weichei, aber ein verdammt liebenswertes. Er träumt sich am Ende in Pläne einer Zukunft herein, die er wohl nicht erreichen wird. Aber er träumt.

Der abschließende innere Monolog der Molly Bloom, der besagten promiskuitiven Dame, bricht noch einmal mit all dem, was wir in den vorigen 17 Kapiteln erfahren haben – und lässt Bloom und dessen Einschätzung seiner Ehe in einem völlig anderen Licht erscheinen.

Alles ist genau so wahr, wie wir es wahrnehmen. Und es ist der Alltag, auf den es ankommt. Es gibt nichts anderes. Was bleibt, ist die Erinnerung an einstmals schöne Tage, an vergangenes Glück. Und die Hoffnung.

Ulysses Lesen? Unbedingt!

Joyces “Ulysses” ist wahrhaft ein fantastisches Buch, in dem eine Komplexität und diffizile Kunstfertigkeit steckt, die mir bei bisher keiner anderen Lektüre untergekommen ist. Es handelt sich hierbei nicht um Kunst um der Kunst willen, um einen, der – auch wenn Joyce es selbst augenzwinkernd so sagte – etwas nur schrieb, um die Literaturkenner zu ärgern. Ulysses ist tatsächlich so gehaltvoll, so qualvoll und so wertvoll wie es heißt. Kein Wort ist verschenkt, aber man muss nach jedem einzelnen greifen.

Greift zu! Ich bin mehr als froh, mit Joyce nach Dublin gereist zu sein.