We the People

Die Bürgerrechtsbewegung im US-Comic am Beispiel von drei Kurzrezensionen

“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”
– Declaration of Independence

Letztes Jahr jährte sich der March on Washington zum 50. Mal – jener Aufmarsch der (nicht nur) afroamerikanischen Bevölkerung “für Arbeit und Freiheit”, wie es offiziell heißt, bei dem Dr. Martin Luther King jr. seine berühmte “I Have a Dream”-Rede hielt. Anlässlich dieses Jubiläums erschienen einige Perlen im Comicbereich, die die historische Perspektive einnehmen und das damalige Geschehen reflektieren, aber auch den heutigen Stand der Gleichberechtigung zwischen der schwarzen und der weißen US-Bevölkerung betrachten. Zwei dieser Werke hab ich mir vorgeknöpft. Dazu betrachte ich noch ein Heft, das im Jahr 1957 – also noch vor dem March on Washington, vor der Verleihung des Nobelpreises an King und vor dessen großartiger Rede – mitten im Bürgerrechtskampf als Mutmach-Publikation erschienen ist.

I. March – Book One
Szenario: John Lewis, Andrew Aydin / Zeichnungen: Nate Powell / 2013

Im ersten Teil der March-Reihe, die im US-Original bei TopShelf erscheint, erzählt Congressman John Lewis seine ganz persönliche Geschichte. Lewis war in den sechziger Jahren und bis weit danach ein führender Kopf des schwarzen Civil-Rights-Movements und sitzt seit bereits 1987 für den Bundesstaat Georgia im US-Kongress. Als Erzählperspektive wählt der Szenarist Andrew Aydin den Tag der Inauguration Barack Obamas. An diesem Tag empfängt Lewis in seinem Abgeordnetenbüro eine junge schwarze Familie und beginnt, den kleinen Kindern vom Freiheitskampf ihrer Gruppe zu erzählen.
Dabei holt Lewis weit aus: Beginnend auf einem Feld im ländlichen Alabama sieht man den kleinen John beim Füttern der Hühner. Wenige Panels später erfährt der Leser, wie Lewis als junger Student das erste Mal in Kontakt mit der Bürgerrechtsbewegung kommt. Den Schwerpunkt des Buches nehmen die Vorbereitungen eines Counter Sit-Ins ein: Damals waren öffentliche Orte wie Busse und Cafés zumindest im Süden der USA vollständig segregiert, sodass Schwarze sich nicht einfach an die Theke einer Bar oder eines Restaurants setzen durften. Lewis und seine Mitstreiter übten diese geplante Konfrontation und stellten die zu erwartenden Demütigungen durch die weißen Restaurantbesucher nach. Dadurch waren sie befähigt, im bevorstehenden Ernstfall des geplanten Sit-Ins die von Dr. Martin  Luther King gepredigten Grundsätze des gewaltlosen Widerstands umsetzen zu können.
Auch wenn man sich das Ende vorstellen kann, soll hier nichts gespoilert werden. “March” endet sehr offen, handelt es sich doch um den ersten Band einer Trilogie.
Mit Spannung erwarte ich den zweiten Teil. Lewis schafft es – nicht zuletzt auch unterstützt durch Nate Powells wunderbar dynamischen Schwarzweiß-Strich, die damalige Konfrontation lebhaft rüberzubringen. Gerade bei den Szenen zur Vorbereitung des Cafébesuchs durch die Schwarzen wird deren Angst vor erneuten Demütigungen ihrer weißen Peiniger spürbar. Ein lesenswertes, authentisches Comic.

II. The Silence Of Our Friends
Szenario: Mark Long, Jim Demonakos / Zeichnungen: Nate Powell / 2012

Ein zweites Comic zum gleichen Oberthema, ebenfalls von Powell mehr als solide gezeichnet, und doch ganz anders. Long und Demonakos erzählen in dem bei First Second erschienenen Comic sowohl aus der schwarzen als auch aus der weißen Perspektive, wie schwierig es für die Toleranz auf beiden Seiten gegenüber der jeweiligen Gegenseite war, zu überleben. Zwei junge Familienväter, einer schwarzer Bürgerrechtler, der andere weißer Reporter, versuchen, die aufkeimende Freundschaft zwischen den Familien auszuleben, was ihnen aufgrund des sie umgebenden Konflikts mehr schlecht als recht gelingt.
Das Werk ist semi-autobiographisch – Long erzählt die Geschichte seines Vaters, interpretiert sie aber frei. Im Zentrum steht hier der Schusswechsel am Rande einer Demonstration, an der Longs Vater als Reporter teilnahm. Er muss sich später, im Zeugenstand des folgenden Prozesses, entscheiden, ob er seine ihm zugedachte Rolle als angepasster Weißer ausfüllt, oder ob er die Kraft findet, die unbequeme Wahrheit zu sagen.
In “The Silence of Our Friends” nimmt sich Powell zeichnerisch noch etwas größere Freiheiten als in “March”. Das bekommt dem Comic meiner Meinung nach nicht ganz so gut, wirkt doch alles gelegentlich etwas chaotisch. Dennoch ist auch dieses Werk absolut lesenswert, wenngleich einen Hauch schwächer als “March”.

Aber das ist wohl Geschmackssache: Wer gegen einen Schuss Pathos nichts einzuwenden hat, der greife zum höchst authentischen March. Wer einen etwas verspielteren, jedoch nicht weniger eindrucksvollen Zugang zum Thema sucht, der lese “The Silence of Our Friends”. Am besten ist es ohnehin, beide Comics zu lesen.

III. Mathin Luther King and the Montgomery Story
Publikation der Fellowship of Reconciliation / 1957

Zum Abschluss noch ein Gimmick: “Martin Luther King and the Montgomery Story” ist das Comic, das John Lewis dazu inspirierte, “March” zu schreiben und seine Geschichte mit den Mitteln des Mediums Comic zu erzählen. Es handelt sich um eine Publikation, die 1957 von der religiösen Organisation “Fellowship of Reconciliation” herausgegeben wurde. Zeichner und Szenarist sind (mir) unbekannt. Ich habe das Comic für 3,50 € irgendwo in den Weiten des WWW ergattert. Dieses kleine Geld war mehr als gut investiert: Das über 50 Jahre alte Comic umweht tatsächlich ein Hauch Geschichte: Man kann sich vorstellen, wie amerikanische Jugendliche schwarzer Hautfarbe Ende der 1950er-Jahre in dem Comic geblättert haben und motiviert wurden, den immer aussichtsreicher werdenden Kampf gegen die Segregation aufzunehmen.
Im Zentrum der Geschichte steht der Busstreik von Montgomery, der Heimatstadt Dr. Martin Luther Kings. Der Bus-Boykott war die spontane Folge der couragierten Weigerung von Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu räumen. In der Folge des Boykotts, der  als Initialzündung der politischen Arbeit von Dr. King genannt werden kann, erfährt der Leser ähnlich wie in “March”, wie die Bürgerrechtsaktivisten ihre Freiheit durch die Anwendung des gewaltlosen Widerstands erlangten.
Das Comic, bei dem es sich nunmehr eher um ein historisches Dokument handelt als um ein reines Comicheft, schließt mit einer Anleitung zum gewaltlosen Widerstand (“How the Montomery Method Works”) und zur Selbstorganisation. Damit kam es seinem Auftrag zur Motivation der Unterdrückten nach.

Mich haben diese 16 Seiten stärker beeindruckt als die anderen beiden Titel.

I Have a Dream – 1963

Montaigne und die Lebenskunst

“Wie soll ich leben? – Oder das Leben Montaignes in einer Frage und 20 Antworten” – von Sarah Bakewell, C.H. Beck 2013

Was für ein Buch! Was für ein Mensch!

Michel…was? Wer zur Hölle ist das? Ich gebe es zu: Als ich Bakewells Biographie von Michel de Montaigne vor einigen Monaten im Buchladen meines Vertrauens sah, hatte ich keine Ahnung, um wen es sich da handelt, wusste keineswegs, wann der gute Mann gelebt hat und was er überhaupt geschrieben hat. Fasziniert war ich hingegen direkt von dem Konzept des Werkes: Eine Biographie, die eine einzige Frage stellt – “Wie soll ich leben?” – und diese Frage anhand des Lebens von Montaigne in zwanzig verschiedenen Antworten auslotet. Dass hinter diesem Buch mehr als nur die reine Biographie eines Renaissance-Philosophen stecken musste, war mir schnell klar.

Dennoch begann ich die Lektüre zögerlich: Sollte ich wirklich fast 400 Seiten über einen einzelnen Menschen lesen, der vor 500 Jahren lebte? Ich begann, und ich übertreibe nicht: Nach nicht mehr als 31 Seiten hatte Bakewell mich endgültig am Haken. Oder vielmehr Montaigne selbst. Die erste Antwort auf die Leitfrage, die einen kleinen anfänglichen Überblick über Montaignes Leben gibt, lautet: “Habe keine Angst vor dem Tod”. Bereits hier berichtet Bakewell in leichtfüßiger, humorvoller Art davon, welche Ideen und Trick Montaigne sich einfallen ließ, um im Wege einer bewussten Autosuggestion den Widrigkeiten des Lebens zu entkommen. Bereits das erste Kapitel enthält in nuce alles, was das Buch lesenswert macht: Montaignes Lebensfreude, seine philosophische Technik, bei der es sich um eine Art “Best of” aus Stoa, Epikureismus und Skeptizismus handelt, Begeisterungsfähigkeit, Neugier, Liebe, Freundschaft, Verlust und die Heilung des Verlusts durch das Schreiben.

montaignebindung

Wer war Montaigne?

Doch um wen geht es bei dieser Einführung in die Lebenskunst eigentlich? Wer ist es, der dem Leser Ratschläge gibt wie “Lebe den Augenblick!”, “Habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft!”, “Stelle alles in Frage!” oder “Sei gewöhnlich und unvollkommen!”? Montaigne war ein französischer Adeliger aus der Region um Bordeaux, der im Jahre 1533 geboren wurde und damit mitten in die unübersichtlichen Wirren einer Vielzahl kleinerer und größerer französischer Bürgerkriege geriet. Montaigne schaffte es dennoch, trotz dieser Übergangszeit von Spätrenaissance zum Zeitalter der Reformation und der Glaubenskriege, mehr zu werden als ein adeliger Weinbauer: Er war zugleich Jurist, Bürgermeister von Bordeaux, lateinischer Muttersprachler, Stoiker, Skeptiker, Reisender und ganz nebenbei der Begründer der Essayistik. Dadurch wurde er zu einem der meistgelesenen philosophischen Schriftsteller aller Zeiten, der durch seine stets wankelmütige, mäandrierende, stets den Perspektivwechsel suchende Schreibweise Generationen von Lesern fesselte.

Warum das Ganze?

Bakewell schafft es, dem Ganzen noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die über das reine Nacherzählen von Montaignes Leben hinausgeht – was sicherlich allein schon spannend genug wäre. In jeder Beantwortung der Leitfrage springt Bakewell durch die Zeiten. Auf der einen Seite begründet sie Montaignes Gedanken an antike Philosophen und Schriftsteller. Auf der anderen Seite aktualisiert sie Montaignes Gedanken, in dem sie gleichzeitig die Rezeption von Montaignes Schaffen durch die Jahrhunderte mitliefert. So treten als Vorbilder Montaignes unter anderem Seneca, Epikur und Plutarch auf, als Kritiker René Descartes und Blaise Pascal, als von Montaigne begeisterte Leser so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Rousseau, Diderot, Friedrich Nietzsche und Stefan Zweig.

All das ist spektakulär und fesselnd (obwohl das Buch einen schreiend rosa Einband hat): Bakewell entwirft ein Panorama des guten Lebens, ein Fest der Lebenskunst, indem sie Montaigne in den Mittelpunkt stellt und seine von Lebensfreude, Selbstbehauptung und Begeisterungsfähigkeit geprägte Denkweise in diversen Kontexten und mit Hilfe dutzender historischer Personen auf unser heutiges Leben bezieht.

So entsteht tatsächlich eine Anleitung zum guten Leben, die dazu höchst lesenswert ist. Jeder muss die Frage “Wie soll ich leben?” für sich selbst beantworten, jeden Tag aufs Neue. Aber Bakewells zwanzig Antworten, destilliert aus der gedanklichen Essenz eines großartigen zeitlosen Philosophen, sind beileibe keine schlechte Richtschnur.

Joe Sacco: Reportagen

“Es wäre gut, wenn noch mehr Comicautoren künstlerische Risiken eingehen würden.” – Joe Sacco

Ich gebe es zu: Mit den bisherigen Arbeiten Saccos bin ich nicht warm geworden. Zu düster die stets krisenbezogenen Themen rund um Gaza, Bosnien und Palästina, zu verworren der Erzählstil – hinter diesen Scheinargumenten habe ich mich versteckt und Sacco immer recht schnell wieder zurück ins Regal gestellt.

Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.

SaccoCover

Als vor kurzem in der Edition Moderne “Reportagen” erschien – ein Band mit kürzeren Arbeiten Saccos, die nicht auf einen Ort und ein Thema beschränkt sind – musste ich zugreifen. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Erst recht, wenn derjenige Joe Sacco heißt und seit einigen Jahrzehnten erfolgreich dabei ist, sowohl Comic als auch Journalismus auf den Kopf zu stellen.

“Reportagen” führt Sacco, der auch hier die subjektive Seite nicht ausblendet und selbst, wenngleich teilweise sehr dezent, in den Comics auftritt, unter anderem nach Den Haag und nach Malta.

Diese beiden Arbeiten sind es, die zu den gelungensten des Werks gehören. In Den Haag beobachtet Sacco die Arbeit des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. Wenngleich diese Reportage zu kurz geraten ist, um die Schwierigkeiten, in denen sich das Gericht befindet, in angemessener Tiefe darzustellen (das wäre einen Band vom Umfang der anderen Werke Saccos definitiv wert), erlangt der Leser doch einen kleinen Eindruck von dem Gefühl im Umgang mit dem Problem, aus Kriegschaos Gerechtigkeit zu formen.

Auf Malta, dem Geburtsort Saccos, spürt er dem Leid der afrikanischen Flüchtlinge nach, für die Malta häufig kein Zufluchtsort, sondern der Anfang vom Ende ist. Diese Reportage ist vor dem Hintergrund der Tragödie von Lampedusa und der damit einhergehenden politischen (Schein)Diskussion in der EU und hierzulande um den Umgang mit Flüchtlingen brandaktuell. Sacco zeigt exemplarisch auf, wie eine typische Fluch aus Afrika in die EU abläuft und welche Motive ihr zugrunde liegen. Natürlich kommen auch die Malteser selbst zu Wort und können nach Herzenslust ihrer Angst vor der Überfremdung (die aus maltesischer Perspektive zumindest nachvollziehbarer erscheint) Luft machen.

All das ist in Saccos bekanntem, extrem texturbetontem Schwarz-Weiß-Stil gekleidet. Das muss man mögen, ich halte diese Art der Nutzung von Schraffuren und Textur für zu viel des Guten. Sacco ist niemand, der grafisch allzu subtil zu Werke geht. Stark sind die abwechslungsreichen Physiognomien – keines der Gesichter ähnelt dem anderen, jeder der gezeigten Menschen ist auf seine Weise eine individueller Leidensgenosse, egal an welchem Krisenort.

Jede Reportage wird von kurzen, prägnanten und durchaus selbstkritischen Anmerkungen des Autors am Ende ergänzt.

saccoreportagen

Ist das nun guter Journalismus? Ist guter Journalismus durch das Medium Comic überhaupt möglich? Ja und ja. Saccos Reportagen haben narrative Elemente und sind, allein schon aufgrund des grafischen Mediums, naturgegeben subjektiver als ein rein berichtender Text es wäre. Dennoch macht Sacco das, was meiner Meinung nach guten Journalismus ausmacht: Sich der Wahrheit mit den Mitteln des Mediums, das er nutzt, möglichst stark anzunähern. Das gelingt ihm hervorragend.

Wie es aussieht, werden nun auch Saccos andere Werke nicht mehr allzu lang im Regal verharren müssen.