Neuzugänge im August

Auch im August ist die heimische Bibliothek gewachsen, langsamer als sonst, was die Quantität angeht, aber recht ordentlich in puncto Qualität. In einer guten Bibliothek sollte beides gegeben sein: Büchermasse und Bücherklasse.

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Zu den Neuzugängen und dem Monatsfazit…

Social Reading nach alter Schule: Vom Lesen im Lesekreis

“Lesekreis” – das klingt verstaubt, altbacken, langweilig. Stimmt das?

Schon seit der Schulzeit hegte ich den Wunsch, einmal einem Lesekreis anzugehören, der sich regelmäßig trifft und ein Forum bietet, um die gemeinsame Leidenschaft für Literatur zu feiern. Vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren gründete ich dann spontan gemeinsam mit einigen anderen Münsteranern einen Lesekreis. Jetzt, über 25 monatliche Lesekreis-Treffen später, möchte ich meine Erfahrungen mit dem gemeinsamen Lesen teilen.

böhm lesekreis buch

Alles begann mit einem Tweet

Unser Lesekreis ist ein Comiclesekreis – das heißt, wir lesen Comics, treffen uns und reden darüber. So einfach ist das. Die Erfahrungen, die diese Form des sozialen Lesens mit sich bringt, sind jedoch auch übertragbar auf Lesekreise mit anderer literarischer Schwerpunktsetzung.

Kein einziges Mitglied unseres Lesekreises kannte ich vor der Gründung. Alles begann mit einem Tweet – leider kann ich diesen Tweet, der aus dem März 2012 stammen muss, trotz intensiver Suche nicht mehr finden. Jedenfalls habe ich die Idee, einen Comiclesekreis in Münster zu gründen, einfach mal in die endlosen Weiten der Twitter-Welt gehauen – und siehe da: Philipp Spreckels hat angebissen.

Zum ersten Treffen des Lesekreises in einer münsteraner Kneipe brachte Philipp dann auch gleich noch einige der weiteren heutigen Mitglieder mit, unter anderem Thies Albers, der wie Philipp und ich ebenfalls über Comics bloggt. Die Welt ist klein. Freunde grafischer Literatur scheint es überall zu geben.

Von dann ging alles ganz schnell: Es wurde der Modus ausgeheckt, sich ein mal im Monat in wechselnden münsteraner Kneipen zu treffen. Bei jedem Treffen wird dann die Lektüre festgelegt, über die beim darauf folgenden Treffen gesprochen wird. That’s it. Mehr Regeln gibt es nicht. Bisher sind wir sehr gut damit gefahren.

So steht es auch im “Lesekreis-Buch” von Thomas Böhm: Erlaubt ist, was gelingt. Und was jedem Mitglied eines Lesekreises Spaß macht. Böhm, langjähriger Leiter eines großen Lesekreises, erläutert in dem kleinen Büchlein seine Erfahrungen und Eindrücke rund um das gemeinschaftliche Lesen in einer festen Gruppe. Das Buch war am Anfang unseres Lesekreises hilfreich, wenngleich es aus heutiger Sicht nur die Oberfläche ankratzt. Viele Erfahrungen muss ein jeder Lesekreis, wie jede lebendige Gruppe, selber machen. Dennoch lohnt die Lektüre für den Start eines eigenen Lesekreises ganz bestimmt.

Gruppendynamik

Im Schnitt sind wir im Lesekreis immer fünf bis acht Personen, wobei der “harte Kern” derjenigen, die so gut wie kein Treffen auslassen, fünf Personen umfasst. Das ist eine gute Größe um lebendige Diskussionen zu führen, bei denen auch jeder mal zu Wort kommt. Gleichzeitig erlaubt diese Größe, noch nicht allzu stark steuernd eingreifen zu müssen. Einen Moderator, der das Gespräch leitet – so, wie es Böhm im “Lesekreis-Buch” vorschlägt –  haben wir bislang nicht benannt. Das war auch nicht nötig: Streit gab es im Lesekreis, soweit ich mich erinnern kann, noch nie. Außer natürlich fruchtbare inhaltliche Auseinandersetzungen, wo es auch schon mal hoch her gehen kann. Aber genau das ist ja gewollt: Wir treffen uns, um über das Gelesene zu reden und dabei auch und gerade die gegenteiligen Ansichten der anderen über die Lektüre kennen zu lernen und zu diskutieren.

Spannend ist, dass sich im Lesekreis bestimmte “Lese-Typen” herausbilden, was die jeweiligen eigenen Präferenzen angeht. Für den Comiclesekreis heißt das: Der eine Leser steht mehr auf US-Superhelden, der andere mag lieber Webcomics, ein Dritter fühlt sich bei sogenannten Graphic Novels am wohlsten. Bei den Lektüren, die gelesen werden und die von Monat zu Monat enorm unterschiedlich sind, ist es immer wieder spannend, zu erleben, wie die anderen auf das Gelesene reagieren und ob es ihnen gefallen hat.

Die monatlich wechselnden Themen sind dabei vielfältig. Es gibt dabei große Unterschiede: Entweder lesen wir eine festgelegte Lektüre, also ein ganz bestimmtes Comic. Oder wir legen einen Autor fest, von dem es dann jedem freisteht, irgendwas zu lesen und vorzustellen. Oder wir benennen einfach ein Thema, zu dem jeder dann einen Comic seiner Wahl mitbringt. Dabei hatten wir schon die verschiedensten Themen und Autoren, von Western über Stadtgeschichte bis hin zu Moebius, Don Rosa und Charles Burns.

Nicht mehr ohne

Ich will die Treffen des Lesekreises auf keinen Fall mehr missen. Gerne erinnere ich mich an wunderbare Abende mit Gesprächen, in denen wir das gemeinsame Hobby gefeiert haben – so wie ich es mir immer ausgemalt habe. Aber es blieb nicht nur bei den allmonatlichen Gesprächstreffen: Mehrere comic-bezogene Exkursionen haben wir auch schon gemacht, sei es nach Dortmund in eine Winsor McCay-Ausstellung oder nach Köln zu einer Ausstellung über Art Spiegelmans “MAUS”. Ganz zu schweigen von der nerdigen, aber kulinarisch fantastischen StarWars-Weihnachtsfeier…

Und in Zukunft?

Erst vor kurzem kam ein weiteres Mitglied hinzu, das, wie es aussieht, gute Chancen hat, dauerhaft dabei zu bleiben. Da kein Ende in Sicht ist und da wir darüber reden, die Comickultur nicht nur für uns zu betreiben, sondern eventuell mit dem Ganzen mal die ein oder andere kulturelle Veranstaltung anzuschieben, steht eine Vereinsgründung im Raum. Das ist ein Projekt für die Zukunft, das wir in nicht allzu weiter Ferne angehen werden, wobei noch keine Entscheidung gefallen ist. Ansonsten kommt immer mal wieder der Vorschlag auf, im Wege einer größeren und längeren Exkursion der Comic-Szene in Berlin mal einen Besuch abzustatten.

Der Lesekreis lebt und wächst. Aus einer spontanen Idee wurde eine feste monatliche Institution. Den Lesekreis mitzugründen, war definitiv eine meiner besten Entscheidungen der letzten Jahre.

Ich kann jedem nicht allzu menschenscheuen Literaturfreund nur empfehlen, sich nach Lesekreisen in der eigenen Umgebung umzuschauen. Oder besser noch selber einen zu gründen.

Es lohnt sich!

Joe Sacco: “Der Erste Weltkrieg–Die Schlacht an der Somme”

“Le­po­rel­lo, das oder der; Substantiv, n, m; Le|po|rel|lo; harmonikaartig gefalteter, breiter und längerer Streifen Papier, besonders Leporellobuch; Kurzform für: Leporelloalbum.”
Duden – Die deutsche Rechtschreibung, 26. Auflage 2013

Die Katastrophe in der Katastrophe

Gestern vor 100 Jahren erschallten die Schüsse des Attentäters Gavrilo Princip durch Sarajevo und läuteten den Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Nach dem Tod des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand überschlugen sich die Ereignisse, was fünf Wochen später im Beginn des Ersten Weltkriegs mündete, den viele Historiker als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts betrachten.

Eine der verheerendsten Schlachten des Ersten Weltkriegs und der Militärgeschichte überhaupt war die Schlacht an der Somme. Am 01. Juli 1916 begann eine britisch-französische Großoffensive gegen die deutschen Truppen im Norden Frankreichs, bei der bereits am ersten Tag der Schlacht über 20.000 Soldaten fielen.

Der amerikanisch-maltesische Comic-Journalist Joe Sacco begibt sich mit seiner als deutsch-französischer Doppelübersetzung bei der Edition Moderne erschienenen neuen Arbeit “Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme” mitten ins Geschehen: In einem knapp 7 Meter langen Leporello zeichnet er chronologisch den ersten Schlachttag aus britischer Perspektive nach.

Sacco auf neuen Wegen

Mit seiner erstmals rein historischen Arbeit betritt Sacco gleich in doppelter Hinsicht Neuland: Der Innovator des Comic-Journalismus, der stets seinen persönlichen Ansatz subjektiver Berichterstattung verfolgt, legt zum einen erstmals eine dokumentarische Arbeit über Geschehnisse vor, bei denen er selbst nicht mittelbar oder unmittelbar anwesend war.

Zum anderen nutzt er ein völlig neues Medium: Das Faltbuch, oder, wie gesagt, Leporello. Das Werk besteht aus 24 Tafeln, die ein fließendes Panorama der Schlacht ergeben. Beginnend mit dem frühmorgendlichen Spaziergang des britischen Befehlshabers Douglas Haig zeigt Sacco zunächst die letzten Vorbereitungen der Offensive, die die deutsche Invasion endgültig zurückschlagen sollte. Schließlich wird der Sturm der unzähligen jungen Männer durch die engen Stacheldrahtverhaue über das Niemandsland gezeigt, umgeben von Explosionseinschlägen und Granatsplittern, sowie die Folgen des ersten Schlachttages: Tausendfacher Tod, tausendfache Verletzungen und allgemeine Desillusionierung.

Die perfekt organisierte und orchestrierte Offensive konnte nicht den erwarteten Erfolg bringen. Tatsächlich ist die Schlacht an der Somme die verlustreichste Schlacht in der Geschichte Großbritanniens.

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Einmal neue Sehgewohnheiten, bitte

Das Leporello besticht zunächst durch Saccos wie immer sehr dynamische und lebendige Zeichnungen. Saccos Werk enthält Dutzende Mikro-Narrative: In kleinsten Details erzählt der Zeichner Geschichten von einfachen Soldaten, von Offizieren, von Feldküchen und Lazaretten.

Das Medium “Leporello” hat mich jedoch verwundert. Ob es sich bei dem Leporello nun um ein Comic handelt oder nicht, sei dahingestellt – es macht keinen Unterschied. Die natürlichen Sehgewohnheiten werden hier jedenfalls auf die Probe gestellt. Wenngleich Sacco im chronologischen Verlauf durch die Perspektivwahl eine Kameraführung nutzt, die bei sorgfältiger Betrachtung aus nachvollziehbaren Zooms und Schwenks besteht, schwebt der Betrachter des Panoramas doch permanent gleichsam im Niemandsland, wie die Soldaten. Es gibt bei einem Panoramabild ohne Panels keine Fixpunkte: Der Comic-Grundsatz der Einheit von Zeit und Raum gilt hier nur sehr bedingt.

Hilfestellung gibt da das wunderbare Begleitheft, das zudem mit einem historischen Essay in den Kontext der Schlacht einführt und ebenfalls deren Verlauf erklärt. Tafel für Tafel des Leporellos wird im Begleitheft nachgezeichnet, mit erläuternden Bezugnahmen auf einzelne Details. Das ist eine große Hilfe, denn häufig verlieren sich die Details der Schlacht schlicht und ergreifend im Trubel derselben.

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Das ist von Sacco sicherlich so gewollt: Eine Schlacht ist nun einmal unübersichtlich, der Einzelne verloren. Aber ob der Leser sich darauf einlassen mag, die ohne Panelstruktur nacherzählte Schlacht, gleichsam ohne rhythmische Lese-Anker, in ihren Details nachzuvollziehen, sei dahingestellt. Ich jedenfalls war noch nie ein Freund von Such- oder Wimmelbildern.

Fazit

Dennoch gehört “Die Schlacht an der Somme” nicht nur in die Regale von dezidierten Sacco-Freunden, sondern bietet sich auch für jeden an, den das Medium Comic im Vergleich zu dessen Grenzgebieten interessiert. Denn wer den Teppich von Bayeux oder die Trajanssäule zu Vorläufern des Comics zählt, der wird auch Saccos Werk als Comic einstufen. Dies mag man auch anders sehen.

Interessant, inhaltlich wie medial, ist das allemal. Sacco, der Innovator, verdient Respekt für seine Rechercheleistung und den Mut, dem klassischen Comicfan ein Leporello nahegebracht zu haben. Anderen Sehgewohnheiten zum Trotz.