Offener Brief an J. D. Salinger

Mensch, Salinger, du komischer Kauz: Warum hast du nicht mehr veröffentlicht?

Oh, ich vergaß, das ist die verbotene Frage.

Deinen “Catcher” habe ich im Englisch-LK verschlungen. Und danach nochmal.

Holden Caulfield wandert durch New York, die schönste Stadt der Welt, und weiß einfach nicht, wo die Enten des Central Parks im frostigen Winter hin sind.

Holden Caulfield bestellt sich eine Hure auf sein Hotelzimmer, ganz frivol-erwachsen, und was folgt, ist die beste Beschreibung einer Hure-und-Freier-Szene in der gesamten Weltliteratur. Mit Abstand.

Holden Caulfields Schwester hat den schönsten Frauennamen der Welt: Phoebe. Ich werde mein Kind so nennen, egal ob Junge oder Mädchen. Wobei, vielleicht nenne ich den Jungen Holden. Aber nur vielleicht.

Wegen Holden Caulfield wurde John Lennon erschossen. Aber dafür kannst du nichts.

Mensch, Salinger – warum nur ein wirklich großes Buch? Ich meine, der Rest von dir ist gut. Aber der Catcher zeigt, dass da mehr in dir steckt.

Genau dieses “Mehr” ist es, das jetzt, nach deinem Tod, irgendwo in einem Safe schlummert, wahrscheinlich abertausende Manuskriptseiten. Seit 1965 hast du nichts mehr veröffentlicht, aber – der Sage nach – jeden Tag geschrieben.

Ich möchte, dass der Safe geöffnet wird. Und gleichzeitig möchte ich es auch nicht, dir zuliebe.

Danke für Holden Caulfield.

Und, ach ja: Die anstehende, sehr hollywoodesque Doku über dich macht einen gelinde gesagt reißerischen Eindruck.

 

J.D., die Leute haben dich nicht verstanden.