Genialische Absurditäten

“Und das wollte er, den Juden wissenschaftlich studieren. Das Leid objektiv untersuchen, das Paradies des Schmerzes betreten – wie ein Forscher.”
S. 51

Ein halbblinder Käseimporteur, der eine Beschneidung gehörig vermasselt. Ein eingelegter menschlicher Hoden als Konsequenz, der daraufhin “König David” genannt wird. Zwei homosexuelle Juden, die gemeinsam “Mein Kampf” ins Jiddische übersetzen. Eine Mutter, die ihr Kind hasst und ein Küchenmesser liebt. Ein Ägypter, der gleichzeitig die Hamas unterstützt und mit israelischen Staatshuren ins Bett geht. Und der dafür die Füße frittiert bekommt.

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Was soll man dazu sagen?
Eine ganze Menge, aber ich werde versuchen, mich trotz Euphorie kurz zu fassen. Es geht um Arnon Grünbergs Roman “Der jüdische Messias”, der dieses Jahr erstmals in deutscher Übersetzung im Diogenes-Verlag erschienen ist. Grünberg wurde 1971 in Amsterdam als Sohn deutscher Juden geboren und betrat im Alter von nur 23 Jahren mit dem internationalen Bestseller “Blauer Montag” die literarische Bühne. Seitdem verbringt Grünberg keinen Tag ohne zu schreiben: Er veröffentlicht im Schnitt jedes Jahr ein Buch, teilweise unter dem Pseudonym Marek von der Jagt; hinzu kommen tägliche Kolumnen, Blogposts und jede Menge Reportagen (letztere – “Couchsurfen und andere Schlachten” erscheinen im Oktober ebenfalls bei Diogenes).

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Im Jahr 2004 erschien nun erstmals Grünbergs “Messias” im Original und es fragt sich natürlich, warum es neun Jahre dauerte, bis dieser Roman auf deutsch erscheinen konnte. Anders als beispielsweise bei Herrn Foster Wallace wird es nicht am Stil gelegen haben, denn Grünberg schreibt rasant, aber klar, nie lässt er sich zu sprachlichem l’art pour l’art hinreißen, sein Stil ist ruhig, leichtfüßig. Nein, es muss am Inhalt liegen. Und der hat es, wie oben angedeutet, in sich:

“Xavier war noch kein Jude, aber schon Opfer. Der Anfang war gemacht.”
S. 200

Der junge Xavier, Enkel eines SS-Mörders, wächst in Basel auf und kennt das Leiden nicht. Immerzu zufrieden, möchte er das Leid von den Profis lernen – also geht er zu den Juden. Er setzt sich in den Kopf, dieses Volk zu “trösten”, was natürlich voraussetzt, dass er erst einmal selber Jude wird. Wie die Beschreibung ablief, ist oben skizziert. Ähnlich katastrophal geht es weiter. Xavier und sein promiskuitiver Liebhaber Awrommele (allein diesen Namen würde ich mir gerne ausschneiden, rahmen lassen und an die Wand hängen) schlittern von einer absonderlichen Situation in die nächste, landen erst im Krankenhaus, dann im Auto mit einem leicht pädophilen Fahrer, um dann ihr Glück in der großen weiten Welt zu versuchen. Dabei gilt in ihrer Beziehung der eiserne Grundsatz: Bloß nichts empfinden! Wie gut das klappt, kann man sich vorstellen. Wie gut Grünberg das beschreibt, ist außergewöhnlich.

Xaviers Feldzug des Tröstens ist eine Odyssee durch eine moderne mitteleuropäische Gesellschaft, in die das Absurde Einzug gehalten hat. Grünberg hat es in diesem Roman geschafft, alle Sphären der Ironie, des Zynismus und des schwarzen Humors restlos auszuloten. Ich habe teilweise herzlich gelacht und an vielen Stellen tief mit den Personen empfunden, vor allem dem etwas einfach gestrickten, aber liebenswürdigen Awrommele. “Der jüdische Messias” ist dabei keinesfalls eine Komödie. Eher ein tief melancholisches, wortgewordenes Klezmer-Stück, das von einer etwas zu schnell laufenden Schallplatte herübertönt. Jede Szene ist harter Tobak, ob mal wieder Körperflüssigkeiten fließen oder nicht. Keine Szene jedoch ist albern. Vielleicht galt dieser scheinbare Gegensatz, vor dem Hintergrund des Themas (“Er hat Jude gesagt!”) dem deutschen Lesepublikum bisher als nicht vermittelbar.

Dieses Buch hat mir gezeigt, wie kompromisslos, wie radikal Literatur heute sein kann. Grünbergs Messias ist der größte Spaß, den ich in 2013 zwischen zwei Buchdeckeln hatte.

Und was Buchdeckel angeht, bin ich noch promiskuitiver als Awrommele.